Frankreich vor den Parlamentswahlen

Edgar L. Gärtner
Der neue französische Staatspräsident Emmanuel Macron scheint seine Wette gewinnen zu können. Wenige Tage vor dem ersten Wahlgang am 11. Juni zeichnet es sich ab, dass Macrons Partei La République en Marche (REM) zusammen mit den verbündeten Zentristen vom MoDem am 18. Juni die absolute Mehrheit der Sitze in der Pariser Nationalversammlung erringen werden. Die letzte Umfrage von Ipsos/Sopra Steria erwartet für die Partei des Präsidenten zwischen 385 und 415 von 577 Sitzen in der Nationalversammlung. Die gemäßigt rechten Republikaner (LR) könnten nur mit 105 bis 125 Sitzen rechnen, Le Pens Front National nur mit höchstens 15. Die Sozialisten, die bislang 295 Abgeordnete stellten, kämen zusammen mit ihren grünen und radikal-sozialistischen Verbündeten nur noch auf 25 bis 35 Sitze. Die Bewegung „La France insoumise“ des Linksaußen Jean-Luc Mélenchon käme zusammen mit den Kommunisten auf 12 bis 22 Sitze. Die vorgezogenen Wahlen der Auslandsfranzosen lassen erkennen, dass diese Umfrage-Ergebnisse durchaus die realen Trends widerspiegeln.
Eine solche Entwicklung galt kurz nach der Wahl Macrons am 7. Mai noch als wenig wahrscheinlich. Doch in der Zwischenzeit haben Macron und seine Hintermänner zügig ihren Plan der völligen Neugestaltung der politischen Landschaft Frankreichs durch die Spaltung beziehungsweise Auflösung der alten Parteien umgesetzt. Zwar ist es Macron nicht gelungen, François Fillons stärksten Rivalen im LR, den Bürgermeister von Bordeaux Alain Juppé, für das Amt des Premierministers zu gewinnen, dafür aber Juppés engsten politischen Freund Édouard Philippe, den Bürgermeister von Le Havre. Philippe, der in Bonn studiert hat, gelang es, Mitte Mai in Windeseile ein provisorisches Kabinett zusammenzustellen, das als eher rechtsorientiert gilt. Zusammen mit der neuen Arbeitsministerin Muriel Pénicaud nahm er schon in dieser Woche die Reform des verkrusteten französischen Arbeitsrechts in Angriff. Pénicaud ist Psychologin und saß als Personal-Verantwortliche im Verwaltungsrat verschiedener privater und öffentlicher Großunternehmen. Politisch ist sie ein unbeschriebenes Blatt. Ihre Wahl soll wohl als Zeichen für den Pragmatismus der neuen Regierung verstanden werden.
Im Mittelpunkt der angekündigten Reform steht die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes durch die Lockerung des Kündigungsschutzes. Zurzeit sind in Frankreich die mit einem Personalab- oder -umbau verbundenen finanziellen Kosten und bürokratischen Hürden so hoch, dass viele Unternehmen zögern, neues Personal fest einzustellen und sich stattdessen mit Zeitverträgen behelfen oder überhaupt auf eine Expansion verzichten. Das gilt als eine der Hauptursachen der dauerhaft hohen Arbeitslosigkeit in Frankreich, wovon vor allem die Jugend betroffen ist. Abgesehen von der reformistischen Gewerkschaft CFDT, haben sich bislang alle politisch wichtigen, wenn auch zahlenmäßig eher unbedeutenden französischen Richtungsgewerkschaften gegen eine grundlegende Reform des Arbeitsrechts gestemmt. Die kommunistische CGT hat Ende Mai schon einmal ihre Muskeln spielen lassen, indem sie die Fahrer von Gefahrgut-Tanklastern zum Streik aufrief. Schon nach wenigen Tagen waren über 500 Tankstellen völlig und weitere 400 teilweise trocken. Um ähnliche Blockaden zu verhindern, möchte Madame Pénicaud über die Sommermonate mit allen Branchengewerkschaften einzeln verhandeln. Zurzeit erkennt das französische Arbeitsrecht 700 verschiedene Branchen an. Pénicaud möchte diese Zahl auf 200 reduzieren. Mal sehen, was dabei herauskommt…
Ob die von Präsident Macron und seiner Regierung angekündigten Reformen auch zu einem Bürokratieabbau führen werden, erscheint dagegen schon jetzt höchst zweifelhaft. Macron hatte in seinem Wahlprogramm eine Verallgemeinerung und Verstaatlichung der Arbeitslosenversicherung angekündigt. Das bedeutet, dass in Zukunft auch Unternehmer und Freiberufler einbezogen werden sollen, was mit Sicherheit einen Bürokratisierungsschub nach sich zöge. Zurzeit werden die Kassen der Arbeitslosenunterstützung von den „Sozialpartnern“ paritätisch verwaltet. Bei einer Verstaatlichung verlören diese an Einflussmöglichkeiten. Deshalb wird diese Reform wohl nicht ohne Widerstand hingenommen werden. Ein deutliches Zeichen für die unter Macron fortschreitende staatliche Bürokratisierung der Wirtschaft ist die Tatsache, dass Freiberufler neuerdings ihre Buchführung nicht mehr mithilfe von Microsoft Excel machen dürfen, sondern nur noch mit staatlich zertifizierter Spezial-Software.
Offenbar dient die von den Massenmedien verbreitete Botschaft, mit der Wahl Macrons ziehe frischer Wind durch die verkrusteten Institutionen des V. französischen Republik, nur der Ablenkung von der real fortschreitenden Zentralisierung und Technokratisierung Frankreichs. Wird die Mehrheit von etwa 60 Prozent der Franzosen, die mit diesem Kurs nicht einverstanden ist, einen Weg finden, um ihren Anliegen politisch zum Durchbruch zu verhelfen? Oder sollten sie nicht lieber der Politik ganz den Rücken kehren? Diese Alternative wird allerdings unter der von Macron und seinen Sponsoren angestrebten totalen staatlichen Kontrolle immer unwahrscheinlicher.