Vorsorgen oder gut leben?

Vorbeugen ist nicht immer besser als heilen

von Edgar L. Gärtner

Was der Flop der H1N1-Impfung über das Vorsorgeprinzip lehren könnte

Die französische Regierung unter dem allzeit unter Strom stehenden Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy wurde zum Jahreswechsel gewahr, dass sie auf über 90 Millionen Dosen eines im letzten Jahr, angesichts einer gerüchteweise anrückenden Schweinegrippen-Pandemie, eilig bestellten Anti-H1N1-Impfstoffes sitzen zu bleiben drohte. Nur fünf von zurzeit etwa 60 Millionen Franzosen haben sich bis dato gegen die zur planetaren Gefahr aufgebauschte Sommergrippen-Variante impfen lassen. Nach Schätzungen von Medizinern haben sich gleichzeitig über 20 Millionen Franzosen völlig umsonst beziehungsweise lediglich um den Preis kaum spürbarer leichter Grippesymptome immunisiert. Mehr als eine Milliarde Euro, die der hochverschuldete französische Wohlfahrtsstaat für die Bekämpfung einer hypothetischen Pandemie-Gefahr locker gemacht hat, scheinen in den Sand gesetzt. In den deutschen Bundesländern sind die Verhältnisse ähnlich, aber nicht ganz so schlimm wie in Frankreich. Da die georderten Chargen zum Teil noch gar nicht produziert sind, versuchen Frankreich und Deutschland jetzt, zumindest einen Teil ihrer Aufträge noch zu stornieren. Speziell in Frankreich wirft das folgende Fragen auf: Wieso wurden fast 100 Millionen Impfstoff-Portionen bestellt – dreimal mehr, als für eine vernünftige Durchimpfungsrate der Bevölkerung erforderlich gewesen wäre? Warum legte die Regierung gleichzeitig einen riesigen Vorrat des umstrittenen Grippe-Medikaments Tamiflu (ein Drittel der weltweiten Gesamtvorräte!) an? Warum wurden teure Atemmasken angeschafft, die nur für Spitzenbeamte und Manager zur Verfügung standen?

Ich suche jetzt die Antwort bewusst nicht auf der von Verschwörungstheoretikern gelegten Fährte, wonach das Virus H1N1 selbst und die damit verbundene weltweite Aufregung auf Machenschaften der Pharma-Konzerne Glaxo Smith Kline (GSK), Sanofi-Aventis und Novartis zurückgehen soll. Ich halte mich vielmehr an die offizielle Begründung der Maßnahmen durch das „Vorsorgeprinzip“. Dieses ist Anfang der 70er Jahre in Deutschland erfunden und 1992 auf dem „Erd-Gipfel“ von Rio weltweit bekannt gemacht worden. “Drohen schwerwiegende oder bleibende Schäden, so darf ein Mangel an vollständiger wissenschaftlicher Gewissheit kein Grund dafür sein, kostenwirksame Maßnahmen zur Vermeidung von Umweltverschlechterungen aufzuschieben”, lautet der Grundsatz 15 der Rio-Deklaration. Inzwischen hat dieses Prinzip Eingang in den Maastricht-Vertrag, in den Lissaboner Verfassungsvertrag und in die französische Verfassung gefunden. Da Nicolas Sarkozy sich in den Kopf gesetzt hat, die Deutschen mit Vorsorge-Rhetorik zu überholen, gaben sich seine Beamten größte Mühe, das Prinzip konsequent umzusetzen. Doch gerade dadurch haben sie die Probleme geschaffen, vor denen sie jetzt stehen. Denn unbegrenzte Vorsorge ist absurd. Wer ständig nur vorsorgt, der verpasst das Leben. Wenn überhaupt, ist das Vorsorgeprinzip nur insoweit hilfreich, als es nicht allzu konsequent angewandt wird. Heilen ist viel wichtiger als Vorbeugen, auch wenn ein von der wohlfahrtsstaatlichen Werbung gedankenlos wiederholtes Sprichwort das Gegenteil behauptet.

Die oben zitierte Definition des Vorsorgeprinzips lässt nämlich die Frage offen, ob Vorsorgemaßnahmen auch Kosten-Nutzen-Kriterien unterliegen sollen beziehungsweise dürfen. Verbreitet ist die Meinung, Kostenabwägungen erübrigten sich, wenn es um Menschenleben gehe. Wäre dieses Argument stichhaltig, gäbe es weder Lebens- noch Unfallversicherungen. Dabei möchte ich nicht in Abrede stellen, dass der monetären Bewertung von Lebensaspekten enge Grenzen gesetzt sind. Aber auch bei einer nichtmonetären Bewertung erscheint der Nutzen von Maßnahmen zur Abwendung hypothetischer Gefährdungen allzu oft mehr als fraglich, zumal es sich nicht selten zeigt, dass Vorsorge nur um den Preis der Aufgabe von Freiheit und Wohlstand, wenn nicht gar des Seelenheils zu haben wäre. Ausnahmen bilden lediglich private Vorsorgeaufwendungen wie etwa die Anlage von Vorräten für den Winter, Rücklagen für das Alter oder für Reparaturen sowie äußere Gefahren beziehungsweise Schadereignisse wie etwa Erdbeben in Gebieten, in denen Platten der Erdkruste aufeinander stoßen, deren Eintrittswahrscheinlichkeit einigermaßen realistisch abschätzbar ist. Aber auch in diesen Fällen genügt es oft nicht, zwischen Vor- und Nachteilen wirtschaftlich vertretbarer Schutzmaßnahmen abzuwägen. Im wirklichen Leben geht es stattdessen nicht selten um Entscheidungen zwischen zwei Übeln. Welches davon ist das kleinere?

Solche Entscheidungen, sofern sie nicht spontan „aus dem Bauch heraus“ getroffen werden, kommen in der Regel nicht ohne mehr oder weniger bewusst religiöse Begründung aus. Denn es geht dabei um die Frage nach dem Sinn des Lebens – eine Frage, die von keiner Wissenschaft und keinem formalen Kosten-Nutzen-Vergleich beantwortet werden kann. Als religiöse Begründung dient anstelle des historisch bewährten christlichen Humanismus in Europa inzwischen aber mehr und mehr die letztlich selbstmörderische Öko-Ersatzreligion (Öko-Nihilismus). Kein Wunder, dass mit dem „Vorsorgeprinzip“ immer häufiger Maßnahmen und Investitionen gerechtfertigt werden, deren volkswirtschaftliche Rendite eindeutig negativ ist.

Internet:

Der enorme Schaden der Pandemie, die keine war

Schweinegrippe kostet Länder 400 Millionen Euro

Grippe A (H1N1): la France peine à écouler ses vaccins

La France s’inquiète pour son surplus de Tamiflu et de masques

H1N1: un coût de plus d’un milliard d’euros

Edgar L. Gärtner: Öko-Nihilismus. Eine Kritik der Politischen Ökologie (veröffentlicht am 2. Februar 2010 in der NZZ)

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Der Nihilsmus der europäischen Chemikalienpolitik

In einem Vortrag, den ich im Jahre 2007 auf dem European Freedom Summit in Berlin gehalten habe, zeige ich, welche seltsamen Blüten das schlecht definierte „Vorsorgeprinzip“ in der Chemikalienpolitik der EU (REACh) treibt.

Literatur:

Edgar Gärtner: Vorsorge oder Willkür, Instituts Verlag, Köln 2006

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Keine Rechtssicherheit ohne Eingrenzung des Vorsorgeprinzips

Trotz Verbesserungen im Detail enthält die Chemikalienpolitik der EU weiterhin einen fundamentalen Webfehler: Das ihr zugrunde liegende Vorsichtsprinzip ist nirgends definiert.

Das Europaparlament hat am 17. November in Strassburg einen als „historisch“ gelobten Kompromiss über die Ausgestaltung der REACh-Verordnung gefunden: Die Registrierung der in Mengen bis zu 100 Tonnen hergestellten Stoffe soll aufgrund einer vorab getroffenen Absprache zwischen der konservativen, der sozialistischen und der liberalen Fraktion im EP (u. a. durch den Verzicht auf die Prüfung der Reproduktionstoxizität) erleichtert werden. Durch die Einführung einer „Opt-out-Option“ bei der Verpflichtung zum Austausch von Testdaten nach dem OSOR-Prinzip („One Substance – One Registration“) und durch die Bildung von Verwendungs- und Expositionskategorien bei der Erstellung der Sicherheitsberichte sollen die Kosten der Stoffprüfung und der Versuchstierbedarf gesenkt werden. Hier bleiben aber Probleme der Datensicherheit und des Schutzes geistigen Eigentums vor allem mittelständischer Unternehmen nach wie vor ungelöst (siehe CR 6/2005).

Gleichzeitig beschloss eine Koalition aus Sozialisten, Liberalen und Grünen, die Zulassung von Stoffen, entsprechend dem Votum des EP-Umweltausschusses, zu erschweren. Zulassungen für das Inverkehrbringen und die Verwendung „besonders besorgniserregender Stoffe“ sollen von der EU-Kommission grundsätzlich auf fünf Jahre befristet werden, „sofern keine geeigneten Alternativstoffe oder –technologien vorhanden sind, die Verwendung dieser Stoffe aus sozioökonomischen Gründen gerechtfertigt werden kann und sich die Risiken aus ihrer Verwendung angemessen beherrschen lassen.“ (Änderungsantrag 15)

Die Industrie hofft, dass dieser Teil des Straßburger Kompromisses vom EU-Ministerrat korrigiert wird. Umweltkommissar Stavros Dimas hat versichert, die Kommission wolle keine generelle Substitutionspflicht, wie sie Organisationen wie der WWF oder Greenpeace fordern. Die befristete Zulassung von Stoffverwendungen soll flexibel gehandhabt werden. Ob diese Korrekturen der Industrie aber mehr Rechtssicherheit bringen werden, ist sehr fraglich. „Garant der Rechtssicherheit für Unternehmen“ soll nach dem im EP durchgegangenen Änderungsantrag 17 die neue Europäische Agentur für chemische Stoffe (ECA) in Helsinki sein. Dieser soll „die Gesamtverantwortung für das Management der neuen Chemikalienpolitik“ übertragen werden. Unternehmen oder EU-Mitgliedsstaaten, die Stoffbewertungen der ECA anzweifeln, tragen die Beweislast.

Wie Joachim Kreysa von der EU-Kommission im Oktober auf einem Seminar der Fresenius-Akademie in Mainz ausführte, sollen in Helsinki bis zu 700 Toxikologen und andere Experten der Chemikaliensicherheit mit der Prüfung der von den Unternehmen vorgelegten Daten beschäftigt sein. David Owen von Shell fragte in Mainz, wo diese Experten kurz- und mittelfristig herkommen sollen, wenn schon heute Toxikologenmangel herrscht.

Selbst wenn dieses Problem gelöst wäre, bliebe ein großer Unsicherheitsfaktor: Die Interpretation des umstrittenen „Precautionary Principle“ (Vorsichts- oder Vorsorgesorgeprinzip) im Sinne einer Beweislastumkehr. Der Vorsorge-Grundsatz wurde Ende Juli 1992 im Vertrag von Maastricht (Artikel 130r, Abs. 2, heute: Artikel 174,2) erstmals in die europäische Gesetzgebung aufgenommen. Allerdings finden sich im Maastrichter Vertrag selbst weder eine Definition noch Ausführungsbestimmungen für die Anwendung des Prinzips. Aus dem Text geht nur hervor, dass das Vorsorgeprinzip bei drohenden Umweltschäden gelten soll. Gefahren für die menschliche Gesundheit wurden nicht explizit erwähnt.

Die Väter der EU interpretierten das Vorsorgeprinzip also zunächst ähnlich wie die wenige Wochen zuvor von der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung einstimmig angenommene “Rio-Deklaration”. Dort steht der oft zitierte Satz: „Drohen schwerwiegende oder bleibende Schäden, so darf ein Mangel an vollständiger wissenschaftlicher Gewissheit kein Grund dafür sein, kostenwirksame Maßnahmen zur Vermeidung von Umweltverschlechterungen aufzuschieben.“

Dieser in vorläufiger Form bereits im deutschen Wasserhaushaltsgesetz von 1957 enthaltene und später im deutschen Bundesimmissionsschutzgesetz von 1974 ausformulierte Grundsatz scheint auf den ersten Blick vom gesunden Menschenverstand diktiert zu sein. Er erinnert an die Formel „Vorbeugen ist besser als heilen.“ In diesem Satz steckt aber auch viel Gedankenlosigkeit. Denn obwohl Vorsorge für Notfälle oder für das Alter ein Grundelement jeglicher vernünftigen Lebensführung und Wirtschaftstätigkeit darstellt, ist die Formel, wie leicht einsehbar ist, keineswegs für alle Situationen geeignet. Wer allen Risiken aus dem Wege gehen möchte, der verdammt sich selbst zur Untätigkeit. Deshalb ist es bedenklich, eine vernünftige individuelle Handlungsmaxime zu einem universellen Rechtsgrundsatz zu machen. Nicht von ungefähr hatten kurz vor der Rio-Konferenz zahlreiche Nobelpreisträger im „Heidelberger Appell“ vor einem neuen Irrationalismus gewarnt.

So einigten sich die in Rio de Janeiro versammelten Staatslenker und Interessenvertreter auf eine eher gemäßigte Formulierung des Vorsorge-Grundsatzes, in der anklingt, dass Vorsorgemaßnahmen sich auch rechnen müssen. In der ebenfalls in Rio verabschiedeten Klimarahmenkonvention wird deshalb der Begriff „cost-effective“ klar im Sinne wirtschaftlicher Verhältnismäßigkeit interpretiert. Es heißt dort: „In Fällen, in denen ernsthafte oder nicht wiedergutzumachende Schäden drohen, soll das Fehlen einer völligen wissenschaftlichen Gewissheit nicht als Grund für das Aufschieben solcher Maßnahmen dienen, wobei zu berücksichtigen ist, dass Politiken und Maßnahmen zur Bewältigung der Klimaveränderungen kostengünstig sein sollten, um weltweite Vorteile zu möglichst geringen Kosten zu gewährleisten.“ Der Grundsatz 12 der Rio-Deklaration fordert überdies: „Umweltbezogene handelspolitische Maßnahmen sollen weder ein Mittel willkürlicher oder ungerechtfertigter Diskriminierung noch eine verdeckte Beschränkung des internationalen Handels darstellen.“

Somit hat die Rio-Konferenz, genau besehen, den Geltungsbereich des Vorsorge- bzw. Vorsichtsprinzips bereits stark eingegrenzt, indem sie darauf bestand, Vorsorgemaßnahmen gleichzeitig den Grundsätzen der ökonomischen Verhältnismäßigkeit und der Nichtdiskriminierung beziehungsweise der Ablehnung von Protektionismus zu unterwerfen.

Diese Interpretation des Vorsorgeprinzips setzte sich aber in den folgenden Jahren kaum durch. Vor allem Umweltverbände sowie grüne und rote Parteien wollten die Anwendung des Prinzips nicht nur auf Fälle beschränkt wissen, in denen noch keine völlige wissenschaftliche Gewissheit über drohende Umweltschäden bestand, sondern interpretierten es im Sinne einer generellen Umkehr der Beweislast. Sie sahen im Vorsorge-Grundsatz eine juristische Revolution, die mit der Unschuldsvermutung („in dubio pro reo“) Schluss macht. Diese war nicht zufällig zu einem Grundpfeiler des Römischen Rechts und der darauf aufbauenden modernen Rechtsordnungen geworden. Nun aber sollte die Industrie vor der Markteinführung von Produkten beweisen müssen, dass diese absolut sicher sind.

Darauf läuft das Anfang 1998 von verschiedenen internationalen Umweltverbänden und ihnen verbundener Forscher verabschiedete „Wingspread Consensus Statement on the Precautionary Principle“ hinaus. Es heißt dort: „When an activity raises threats of harms to human health or the environment, precautionary measures should be taken even if some cause and effect relationships are not fully established scientifically.” Von wirtschaftlicher Verhältnismäßigkeit oder von Nichtdiskriminierung ist hier keine Rede. Schon der Verdacht soll im Prinzip als Begründung für kostspielige Vorsorgemaßnahmen oder Produktverbote genügen. Schokolade müsste danach zum Beispiel verboten werden, weil jeder Chemiker daraus gefährlichen Sprengstoff herstellen könnte.

Angesichts der Tatsache, dass extreme Interpretationen des Vorsorgeprinzips auch in Europa Schule machten und der Grundsatz selbst im Maastrichter Vertrag nicht definiert worden war, sah sich die EU-Kommission Anfang 2000 veranlasst, dem Vorsorgeprinzip eine spezielle „Communication“ zu widmen. Darin stellte die Kommission klar, dass dieses den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einschließt und keineswegs auf ein Null-Risiko abzielt. Das Vorsorgeprinzip solle nicht bei der Risikoabschätzung zur Geltung kommen, sondern lediglich Bestandteil des Entscheidungsprozesses im Risikomanagement sein und sich nicht auf vage Vermutungen oder willkürliche Unterstellungen mit protektionistischen Hintergedanken, sondern nur auf wissenschaftlich identifizierte und abgeschätzte Risiken beziehen, forderte das Papier.

Aber die Kommission konnte nicht klären, in welchen Fällen das Vorsorgeprinzip angewandt werden sollte und wann nicht. Im zitierten Papier heißt es dazu lediglich: „An assessment of the potential consequences of inaction and of the uncertainties of the scientific evaluation should be considered by decision-makers when determining whether to trigger action based on the precautionary principle.” Den politischen Entscheidungsträgern und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) soll es also überlassen bleiben, wie sie mit den Ungewissheiten umgehen, die bei der wissenschaftlichen Risikoabschätzung nicht ausgeräumt wurden. Das Dokument deutet nicht einmal an, wann eine Ungewissheit groß genug sein soll, um Vorsorgemaßnahmen zu rechtfertigen.

Kein Wunder, dass es auch in den folgenden Jahren bei EU-Entscheidungen, bei denen das Vorsorgeprinzip eine Rolle spielte, wie Kraut und Rüben zuging. Der Umweltjurist Gary E. Marchant und der Umweltmediziner Kenneth L. Mossman, beide Professoren an der Arizona State University, haben 60 Entscheidungen von Instanzen des EuGH, in denen das Vorsorgeprinzip eine Rolle spielte, unter die Lupe genommen und nachgewiesen, dass der Grundsatz sehr selektiv und widersprüchlich ausgelegt wurde (Gary E. Marchant/Kenneth L. Mossman: Arbitrary & Capricious. The Precautionary Principle in the European Union Courts, published by the International Policy Network, London 2005. In einem Teil der Urteile wurde das Vorsorgeprinzip auch auf „potentielle“ Risiken angewandt, während es sich nach anderen nur auf bereits klar identifizierte Gefahren beziehen soll. In einigen Fällen (so zum Beispiel im Streit um Antibiotika-Zusätze im Tierfutter) sprachen sich Politiker und Richter für das Verbot Jahrzehnte lang bewährter Produkte aus, obwohl die zuständigen wissenschaftlichen Beratergremien die Frage nach der Existenz ernsthafter Risiken klar verneint hatten. In anderen Fällen (insbesondere beim Kampf gegen die Rinderseuche BSE) setzten sich Politik und Justiz über den Rat der Fachleute hinweg, indem sie ernsthafte Infektionsrisiken für Menschen zunächst herunter spielten. Es liegt auf der Hand, dass die EU-Institutionen mit beiden extremen Auslegungen nur Wasser auf die Mühlen solcher letztlich von nihilistischen Motiven getriebenen Gruppierungen leiteten, die das Vorsorgeprinzip – explizit oder implizit – seit längerem mit der Forderung nach einem Null-Risiko und einer Umkehr der Beweislast verbinden.

Was Umwelt- und Verbraucherschutzverbände und mit ihnen immer mehr um Wählerstimmen buhlende Politiker in jüngster Zeit in der Auseinandersetzung um die Ausgestaltung der neuen EU-Chemikalienpolitik fordern, klingt zwar zunächst sehr sympathisch: Damit die Verbraucher nicht unfreiwillig zu Versuchskaninchen der Industrie werden, soll diese vorab beweisen, dass die von ihr angebotenen Produkte unschädlich sind. Dabei wird jedoch vergessen oder unterschlagen, dass es uns Menschen grundsätzlich nicht möglich ist, die Abwesenheit von Risiken zu erkennen. Stringent beweisen können wir immer nur deren Existenz. Abgesehen von Zufällen, findet man dabei in der Regel nur, wonach man sucht. Wird kein Risiko gefunden, heißt das noch lange nicht, dass es überhaupt keines gibt. Die Öffentlichkeit kann also vernünftigerweise von der Industrie nur fordern, dass sie vor der Vermarktung neuer Produkte allen plausiblen Risikovermutungen nachgeht, Vorkehrungen trifft, um nachgewiesene Risiken zu minimieren und sich verpflichtet, zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen einzuleiten, sobald beim Gebrauch eines Produktes unvermutete Risiken auftreten. In diesem Sinne ist das Vorsorgeprinzip in modernen Industrieländern längst zum Standard geworden.

In verabsolutierter Form widerspricht der Grundsatz jedoch der uralten Einsicht, dass alle menschlichen Wahlhandlungen Risiken bergen und Kosten verursachen und deshalb einer Übelabwägung bedürfen. Entscheidet ein Einzelner, eine Firma oder der Staat, bestimmte Handlungen aus Gründen der Vorsicht zu unterlassen oder zu verbieten, heißt das keineswegs, dass sie damit auch ihre Risiken und Kosten insgesamt vermindern. Wer ein Risiko ausschließen will, nimmt damit vielmehr automatisch ein anderes in Kauf. Werden auf Verdacht Stoffverwendungen verboten, gehen mit der Einschränkung der wirtschaftlichen Freiheit unweigerlich Innovations- und Wachstumschancen verloren und das Risiko der Verarmung wächst. Wer überhaupt kein Risiko eingehen möchte, geht also in Wirklichkeit das allergrößte Risiko ein.

Um Eingriffe in den Markt aufgrund willkürlicher Verdächtigungen und Verunglimpfungen von Stoffen und Produkten auszuschließen, hat deshalb die Europäische Kommission in der zitierten „Communication“ vom Februar 2000 klargestellt, die Anwendung des Vorsorge-Prinzips bedürfe in jedem Fall einer wissenschaftlich fundierten Risiko-Abschätzung. Ohnehin fordert schon der Vertrag von Maastricht, alle EU-Verordnungen einer nachvollziehbaren Kosten-Nutzen-Abwägung (Gesetzesfolgenabschätzung) zu unterwerfen, um überprüfen zu können, ob sie dem Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen.

Deshalb musste die EU-Kommission ihrem Anfang 2001 in Form eines „Weißbuches“ veröffentlichten Entwurf einer neuen Chemiepolitik von vornherein eine Kosten-Nutzenabschätzung zur Seite stellen, um begründen zu können, ob ihr bislang beispielloses, weil Millionen von Stoffwendungen umfassendes Regulierungsprojekt REACh überhaupt gerechtfertigt scheint. Unter der damaligen Umweltkommissarin Margot Wallström ließ die EU-Kommission von der Londoner Unternehmensberatung Risk and Policy Analysts Ltd. (RPA) und der schwedischen Statistikbehörde ermitteln, dass die Stoffregistrierung nach REACh in den ersten 11 Jahren zwischen 1,7 und 7 Milliarden Euro kosten würde. Dem stünden wegen des zu erwartenden Rückgangs berufsbedingter Krebserkrankungen mögliche Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen von bis zu 54 Milliarden Euro in den kommenden 30 Jahren gegenüber.

Doch diese Rechnung erscheint nach Ansicht von Angela Logomasini vom Washingtoner Competitive Enterprise Institute (CEI) völlig aus der Luft gegriffen, weil in der EU etwa 80 Prozent aller Fälle von Berufskrebs auf Asbest-Altlasten zurückgehen und höchstens 360 von insgesamt über 32.331 beruflich bedingten Krebsfällen im Jahr auf den Kontakt mit Chemikalien in irgendeiner Form zurückgeführt werden können. Nach den klassischen Arbeiten von Richard Doll und Richard Peto, die auch von der WHO gestützt werden, gehen ohnehin nur 2 Prozent aller Krebsfälle auf Umwelteinflüsse zurück. Nur durch die absehbare Vertreibung von Firmen und Arbeitsplätzen in außereuropäische Länder werde es die EU schaffen, die Zahl berufsbedingter Erkrankungen zu vermindern, vermutet Logomasini in einer unter dem Titel „REACh: Teuer für die Welt, selbstmörderisch für Europa“ auch auf deutsch erschienen Studie über die wahren Kosten von REACh.

In dem im September 2005 im Rahmen der britischen EU-Ratspräsidentschaft vorgelegten Kompromissvorschlag heißt es denn auch im Art. 1.3 etwas vorsichtiger als im REACh-Entwurf der Kommission von 2003: „This Regulation is based on the principle that it is up to manufacturers, importers and downstream users to ensure that they manufacture, place on the market or use such substances that do not adversely affect human health or the environment. Its provisions are underpinned by the precautionary principle.“ Hier verweist der Textvorschlag in einer Fußnote ausdrücklich auf die Klarstellung in der erwähnten „Communication“ der EU-Kommission aus dem Jahre 2000.

Doch gelang es damit nicht, die Mehrheit der EU-Parlamentarier auf den Boden der Tatsachen zurück zu bringen, zumal dort der Inhalt des Vorsorgeprinzips nicht näher bestimmt wurde. Im Artikel 52 der vom EP in erster Lesung angenommenen REACh-Fassung heißt es über Sinn und Zweck der Stoffzulassung: “The aim of this Title is to ensure that substances of very high concern are replaced by safer alternative substances or technologies, where available. Where no such alternatives are available, and where the benefits to society outweigh the risks connected with the use of such substances, the aim of this Title is to ensure that the use of substances of high concern is properly controlled and that alternatives are encouraged. Its provisions are underpinned by the precautionary principle.” Käme das durch, hätte die Politik einen Freibrief für willkürliche Eingriffe in die Wirtschaft in der Hand.

Schon in diesem Sommer setzte sich das EP offen über wissenschaftlichen Sachverstand hinweg, als es unter Berufung auf das Vorsorgeprinzip sechs PVC-Weichmacher in Kinderspielsachen verbot, obwohl kostspielige Risikoabschätzungen nach den Regeln der Kunst beim derzeit gebräuchlichsten PVC-Weichmacher DINP überhaupt keine und bei anderen Weichmachern nur geringe Risiken ausgemacht hatten. Aufgrund des so geschaffenen Präzedenzfalles hängt das Vorsorgeprinzip nun wie ein Damoklesschwert über allen Stoffzulassungsverfahren. Die Produktion und Dokumentation Tausender von Testdaten nützt den Unternehmen wenig, wenn die Politik am Ende dem Druck lautstarker Interessengruppen nachgibt. Da die Hersteller nie beweisen können, dass die von ihnen angebotenen Produkte 100 Prozent sicher sind, wird ihnen nahe gelegt, auf die sichere Seite zu gelangen, indem sie bewährte durch zweifelhafte, aber politisch korrekte Stoffe ersetzen. Im Falle der Spielsachen beispielsweise durch den Ersatz von PVC durch Gummi, obwohl dieser, bedingt durch die Vulkanisierung, immer krebserregende Nitrosamine enthält. Hauptsache: Politisch korrekt.

Edgar Gärtner (2005)

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Literatur:

Edgar Gärtner: Vorsorge oder Willkür, köln 2006