Ist REACh bereits am Ende?

Mitten in der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit müssen viele Unternehmen erhebliche Kosten für die Umsetzung von REACh aufwenden. Doch kaum ein Beteiligter hat den Eindruck, das bringe einen Nutzen. Nun warnt ein Toxikologe vor dem vorzeitigen Scheitern des ehrgeizigen Unterfangens wegen eines zu hohen Versuchstierbedarfs. Vielleicht ist das eine Chance für alternative Testverfahren.

Chemiepolitik: Steht REACh schon vor dem Aus?

Wie alle Toxikologen gehört auch der aus Konstanz am Bodensee stammende und nun an der John Hopkins Universität in Baltimore/Maryland lehrende Professor Thomas Hartung, ein Pionier der Suche nach tierversuchsfreien Methoden zur Prüfung der Chemikaliensicherheit, grundsätzlich zu den glühenden Befürworten der Verbesserung des Verbraucherschutzes durch die systematische toxikologische Prüfung aller „Altstoffe“ mithilfe der EU-Chemikalienverordnung REACh. Doch Ende August 2009 warnte Hartung zusammen mit der italienischen Chemikerin Constanza Rovida in einem Meinungsbeitrag unter dem Titel „Chemical regulators have overreached“ im britischen Wissenschaftsmagazin „Nature“ (Vol. 460/27 August 2009) eindringlich vor einer Fortsetzung des mit REACh eingeschlagenen Weges. Die beiden beziehen sich darin auf eine von ihnen durchgeführte detaillierte Abschätzung des Testbedarfs, die zur gleichen Zeit im Fachorgan „ALTEX“ (Jahrgang 26) erschien. Hartung, der als Erfinder eines tierfreien Pyrogentests und als Leiter des europäischen Zentrums für Alternativen zu Tierversuchen ECVAM in Ispra am Lago Maggiore bekannt geworden ist, hält der EU vor, den zweiten Schritt vor dem ersten getan zu haben, indem sie (implizit) eine Riesenzahl aufwändiger Stoffprüfungen vorschrieb, ohne über einigermaßen zuverlässige Hochdurchsatz-Prüfmethoden zu verfügen.

Die EU-Kommission war bei der Abschätzung der Kosten von REACh davon ausgegangen, dass bis Ende 2008 etwa 27.000 Firmen etwa 180.000 Vorregistrierungen für ungefähr 30.000 Stoffe bei der ECHA in Helsinki einreichen würden. Bekanntlich sandten stattdessen 65.000 Unternehmen insgesamt 2,75 Millionen Vorregistrierungen von fast 150.000 Subtanzen nach Helsinki. Nach einer ersten Bereinigung blieben in diesem Jahr immerhin 143.835 Substanzen auf der ECHA-Liste, davon 54.686 mit einem Produktionsvolumen von über 1.000 Jahrestonnen. Diese müssten schon bis Ende 2010 registriert sein, was kaum vorstellbar ist. Die Europäische Chemikalienagentur ECHA in Helsinki geht davon aus, dass die unerwartet hohe Zahl von Vorregistrierungen durch Fehler der Anmelder (siehe Kasten) zustande gekommen ist. Wie in der zur Verfügung stehenden kurzen Zeit die Spreu vom Weizen getrennt werden kann, ist aber noch immer nicht ersichtlich.

Nach den Schätzungen der ECHA müssten bis Ende 2010 statt über 50.000 „nur“ etwa 8.700 Substanzen (davon 3.500 bekannte „Großstoffe“, die höchsten Testanforderungen unterliegen, plus eine noch unbekannte Zahl von „Problemstoffen“, die verdächtigt werden, krebserregend, erbgutschädigend, reproduktionstoxisch oder besonders umweltbelastend zu sein) samt einer Liste vorgeschlagener Tierversuche registriert werden. Nur bei einem kleinen Teil der betroffenen „Großstoffe“ dürften die bereits vorhandenen Daten für die Registrierung ausreichen. In den meisten Fällen bleibt offen, wie die nötigen Tierversuchsdaten in der bleibenden kurzen Zeitspanne generiert werden können. Als Flaschenhals erweist sich die vorgeschriebene Untersuchung der Reproduktionstoxizität, die nach den bislang gültigen Vorschriften in Zwei-Generationen-Studien an Ratten getestet werden muss. Jeder Zwei-Generationen-Test kostet über 300.000 Euro und nimmt fast zwei Jahre in Anspruch. In den vergangenen 28 Jahren wurden in Europa jährlich nur etwa zwei bis drei Stoffe so aufwändig gestestet. Hartung und Rovida schätzen, nun müssten jedes Jahr einige Hundert solcher Tests durchgeführt werden. Dafür gebe es bei weitem nicht genügend Laborkapazitäten und erst recht nicht genug Toxikologen.

Nach Ansicht Hartungs und Rovidas geht die starke Unterschätzung des Testaufwandes durch die EU-Kommission vor allem darauf zurück, dass ihr Produktionsdaten der Jahre 1991 bis 1994 zugrunde liegen, das heißt aus einer Zeit, in der die EU lediglich 12 Mitgliedsstaaten zählte. Seither habe sich aber das Produktionsvolumen der chemischen Industrie im alten Europa mehr als verdoppelt und sei durch die Erweiterung der EU durch osteuropäische Länder mit bedeutenden Kapazitäten in der Grundstoffchemie zusätzlich gewachsen. Selbst wenn man wie die ECHA annehme, dass die Zahl der vorregistrierten Stoffe durch Mehrfachmeldungen oder die vorsorgliche Anmeldung des ganzen EINECS-Altstoffregisters (aus Angst, den Marktzugang zu verlieren) künstlich aufgebläht wurde, müsse man realistisch von einer mittleren Zahl von 68.000 Stoffen ausgehen, die unter REACh fallen – zumal der Geltungsbereich von REACh in der Rangelei kurz vor der Verabschiedung der Verordnung auch noch auf Zwischenprodukte ausgedehnt wurde. Auch unter sehr optimistischen Annahmen wie der Anwendung computerbasierter Testmethoden wie (Q)SAR und der Vermeidung von Testwiederholungen gelange man zu einem Bedarf von mindestens 54 Millionen Wirbeltieren und einem finanziellen Aufwand von 9,5 Milliarden Euro in den kommenden zehn Jahren. Das ist das Sechsfache der von der EU-Kommission offiziell geschätzten Kosten! Zum Vergleich: Bislang wurden in der EU jedes Jahr etwa 900.000 Versuchstiere für die Prüfung neuer Chemikalien „verbraucht“, was die Industrie etwa 600 Millionen Euro kostete.

Die ECHA hat, wie erwartet, sofort in Form einer umfangreichen Pressemitteilung auf den in „Nature“ veröffentlichten Warnruf reagiert. Sie geht darin von 34.000 von REACh betroffenen Stoffen aus und beharrt auf der offiziellen Schätzung von 9 Millionen Versuchstieren und Kosten in Höhe von 1,3 Milliarden Euro. Sie verweist dabei auf eine Auftragsarbeit des deutschen Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) aus dem Jahre 2004 (T. Höfer und andere). Darin war allerdings ein fünfmal höherer Versuchstierbedarf nicht ausgeschlossen worden.

Prof. Hartung wies die Kritik seitens der ECHA gegenüber der CR zurück, indem er betonte: „Es geht uns nicht primär um den Tierschutz oder um die hohen Kosten der Tierversuche, sondern um die Durchführbarkeit von REACh. Wir möchten darauf hinweisen, dass REACh in der jetzigen Form in eine Sackgasse führt, die nur durch einen anderen Ansatz vermieden werden kann.“ Werde nur jeder der von der ECHA geschätzten 3.500 „Großstoffe“ nach den OECD-Vorschriften TG 414 und 416 getestet, entstehe bereits ein Bedarf von 13 Millionen Versuchstieren, deren Kosten mit 1,4 Milliarden Euro veranschlagt werden könnten. Schon dadurch werde also der für das Gesamtprojekt offiziell geschätzte Kostenrahmen gesprengt. Der Aufwand für die Prüfung der unbekannten Zahl besorgniserregender Chemikalien niedrigerer Tonnage (CMR-Stoffe und besonders umweltbelastende Stoffe) ist dabei gar nicht berücksichtigt.

Da aber schon bei der Prüfung bekannter „Großstoffe“ mit Sicherheit viele falsch positive Befunde auftauchen werden und es kaum denkbar sei, allein deshalb bewährte Allerweltschemikalien aus dem Verkehr zu ziehen, sieht Hartung hier die Chance für einen Neuansatz in der Toxikologie. In einem Aufsatz in „Nature“ (Vol 460/9 July 2009) hat er skizziert, wie er sich die Toxikologie des 21. Jahrhunderts vorstellt. Dass die Aussagekraft von Tierversuchen zu wünschen übrig lässt, ist Fachleuten schon lange bekannt. Bei Zwei-Generationen-Tests muss mit über 60 Prozent falsch positiven Befunden gerechnet werden. Dennoch erwies es sich in den vergangenen vier Jahrzehnten als unmöglich, die Testverfahren auf der Basis der Verabreichung hoher Dosen der Prüfsubstanzen an Nagern (vor allem Ratten) zu verändern, sobald sie einmal in einem mühsamen internationalen Abstimmungsverfahren standardisiert waren, weil die Industrie darauf achten musste, ihre Produkte überall auf der Welt vermarkten zu können.

REACh biete nun die Chance, alternative Testverfahren weltweit durchzusetzen, zumal die US National Academy of Sciences und die US-Umweltagentur EPA, die ein ähnliches Regelwerk wie REACh anstreben, in einem 2007 erschienen Report eine Kombination verschiedener In-vitro-Tests anstelle klassischer Tierversuche empfehlen. In ihrem Tox Cast Programm verspricht sich die EPA viel von Tests an Zellkulturen, darunter insbesondere an menschlichen Stammzellen, von der Anwendung biotechnischer und bioinformatischer Auswertungsmethoden sowie von Genomik und Proteonomik. Diese ermöglichen die Entwicklung computerisierter Hochdurchsatz-Verfahren, mit deren Hilfe gezielt nach bekannten „Signaturen“ toxischer Effekte gesucht werden kann.

Thomas Hartung versteht seine Warnung nicht als Ruf nach einem REACh-Moratorium. Es gehe lediglich darum, REACh entsprechend den neuesten Erkenntnissen der Forschung nachzubessern. Nur einer von 17 verschiedenen Tier-Tests, der allerdings 90 Prozent des Versuchstierbedarfs verursacht, müsse ersetzt werden. Ohnehin stehe zurzeit in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Entscheidung über die Zulassung des erweiterten Ein-Generationen-Tests anstelle des Zwei-Generationen-Tests der Reproduktionstoxizität (TG 416) an. Allein dadurch könne ein Fünftel der Versuchstiere eingespart werden. Hartung gibt sich hier optimistisch: „Die Gesetzgebung ist sperrangelweit offen für solche Änderungen. Meine Hoffnung: Problem erkannt – Problem gebannt.“

Edgar L. Gärtner (veröffentlicht am 9. Oktober 2009 in: Chemische Rundschau Nr. 10/2009, VS-Medien, CH-Solothurn)

KASTEN: Durcheinander in den SIEF

Kaum dass sie ihre Vorregistrierung nach einigen Geduldsproben über REACH-IT nach Helsinki übermittelt hatten, erhielten viele der zuständigen Mitarbeiter von Unternehmen eine Flut von e-Mails, in denen sich Consulting-Firmen unter allen möglichen Fantasie-Namen als SIEF Facilators (SFF) aufdrängten, aber nach einiger Zeit nichts mehr von sich hören ließen – offenbar, weil sie merkten, dass für sie dort nichts zu holen war. Daneben haben viele Firmen Vorregistrierungen eingereicht, obwohl sie gar nicht die Absicht haben, irgendetwas definitiv zu registrieren, weil sie allein schon durch die automatische Einladung zu SIEF an wichtige Informationen über potenzielle Kunden und Wettbewerber gelangen. Im Ergebnis hat sich in etlichen SIEF, an denen im Extremfall mehrere Tausend Firmen teilnehmen, ein heilloses Durcheinander ausgebreitet. Die meisten haben bis heute noch keinen „lead registrant“ benannt und sind weit von einer Regelung der Kostenteilung entfernt. Wie unter diesen Umständen die Zahl vorregistrierter Stoffe bereinigt werden kann, ist nicht absehbar. Immerhin finden sich unter den 143.835 vorregistrierten Substanzen über 22.000, die weder über die CAS-Nummer noch über die EC-Nummer identifizierbar sind. EG

KASTEN: REACh und der Mittelstand

Die Schwierigkeiten kleiner und mittlerer Unternehmen mit REACh beginnen schon mit der Sprache. Bekanntlich gab es die REACH-IT für die Vorregistrierung von Stoffen nur auf Englisch. Und nur die englischen Stoffbezeichnungen konnten auch angemeldet werden. Das war wohl eine der wichtigsten Fehlerquellen beim Start von REACh. Viele Mehrfachregistrierungen ein und desselben Stoffes sollen darauf zurückzuführen sein. Nun kranken die obligatorische Bildung von Substance Information Exchange Fora (SIEF) durch Firmen, die den gleichen Stoff registrieren wollen, sowie darauf aufbauende Anläufe zur Bildung von Registrierungs-Konsortien oft daran, dass viele Vertreter südeuropäischer Firmen kein verhandlungssicheres Englisch mitbringen. Die Annahme von Verträgen verzögert sich, weil teilnehmende Firmen mangels ausreichender Sprachkenntnisse nachträglich Übersetzungsbüros mit der Überprüfung ausgehandelter Texte beauftragen.

Anlass zu Zweifeln an der Durchführbarkeit von REACh geben aber auch andere ungelöste Probleme. Zurzeit haben etliche KMU an der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) unter Generalanwältin Juliane Kokott vom 7. Juli 2009 (EUR-Lex-62007J0558) zu kauen. Darin legt der Gerichtshof die sehr spät in die EG-Verordnung 1907/2006 aufgenommene Meldepflicht für Monomere in importierten Polymeren sehr restriktiv aus. Mittelständische Firmen des Chemiehandels aus Frankreich, England und Deutschland hatten in der Meldepflicht für Monomere, die zu mindestens 2 Masseprozent in Polymeren enthalten sind, die in Mengen über einer Jahrestonne importiert werden, eine Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gesehen, da es in der Praxis kaum möglich ist, die Einhaltung der Vorschrift mit vertretbarem Aufwand zu überprüfen. Nach der Abweisung der Klage durch den EuGH bleibt europäischen KMU, die sich gesetzeskonform verhalten wollen, nichts anderes übrig, als auf Importe von Polymeren zu verzichten. Es dürfte aber kaum möglich sein, illegale Importe und graue Märkte zu verhindern, weil die Zollämter dafür nicht gerüstet sind.

Obendrein obliegt die Umsetzung, das „enforcement“ von REACh, bekanntlich den Nationalstaaten. Selbst ECHA-Chef Geert Dancet weist darauf hin, derselbe Regelverstoß könne in einem EU-Mitgliedsstaat als schweres Vergehen geahndet werden, während er in einem anderen EU-Land als Kavaliersdelikt durchgeht. Dr. Alex Föller, der Hauptgeschäftsführer des Verbandes TEGEWA in Frankfurt am Main, fordert deshalb mehr Kompetenzen und Kapazitäten beim Zoll. Dass das bei Stoffen, die in kleineren Mengen gehandelt werden, nur sehr begrenzt hilft, ist ihm auf dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Drogenhandel wohl bewusst. Ungelöste Probleme sieht Föller auch in den Stoffverwendungsbeschreibungen. Den Herstellern ist es nach wie vor kaum möglich, sich einen einigermaßen realistischen Überblick über kleinvolumige Stoffverwendungen zu verschaffen. Denn auf diesem Feld stehen viele KMU ganz unterschiedlicher Branchen in einem heftigen Ideen-Wettbewerb und lassen sich folglich nicht gerne in die Karten schauen. Eine realistische Risikobewertung ist unter diesen Umständen schwierig. Überdies werden die technischen Anleitungen für die Anwendung der REACh-Bestimmungen (RIB) laufend geändert, so dass vor allem kleinen Stoffanwendern oft nicht klar ist, welche Bestimmungen für sie gelten. Manche Anwender ahnen wohl gar nicht, dass sie bei strenger Auslegung von REACh schon mit einem Bein im Gefängnis stehen. In der Praxis werden diese Probleme in Netzwerken mit kurzem Draht zur EU-Bürokratie durch pragmatische Festlegungen aus der Welt geschafft. Aber wehe dem, der nicht mitspielt! Von der Rechtssicherheit, die REACh der Wirtschaft bringen sollte, kann jedenfalls bislang nicht die Rede sein. EG

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REACH: Babylon lässt grüßen

Die Chemiepolitik der EU schafft nur Datenfriedhöfe von Edgar L. Gärtner

Die am 1. Dezember 2008 zu Ende gegangene erste Phase der Umsetzung der neuen EU-Chemikalienverordnung gilt als großer Erfolg. Doch weist die überraschend hohe Zahl von insgesamt 2,75 Millionen Vorregistrierungen von sage und schreibe 150.000 Stoffen (im Vergleich zu 30.000 Substanzen, mit denen gerechnet worden war) durch insgesamt 65.000 Unternehmen auf erhebliche Startprobleme bei der obligatorischen Bildung von Substance Informations Exchange Fora (SIEF) hin. Hinzu kommt Ärger mit der Registrierungs-Software REACH-IT.

Nach dem Abschluss der Vorregistrierung scheint höchste Eile geboten. Denn Stoffe mit einem Produktionsvolumen von über 1.000 Jahrestonnen müssen bereits bis Ende November 2010 ordnungsgemäß registriert sein. Dabei müssen Daten vorgelegt werden, die in manchen Fällen schon irgendwo, aber oft auf verschiedene Eigentümer verteilt vorhanden sind, in manchen Fällen aber erst mithilfe aufwändiger Tierversuche generiert werden müssen. Da bleibt nicht viel Zeit für das Zusammentrommeln und das Management der Substance Informations Exchange Fora (SIEF), die vom Gesetzgeber vorgeschrieben wurden, um die Zahl der Tierversuche und die Gesamtkosten von REACH erträglich zu halten. Bei manchen Stoffen sind, bei Eibeziehung des Chemiehandels, mehrere Tausend Firmen betroffen, die von den „SIEF Formation Facilators“ zusammengebracht und animiert werden müssen.

Doch wer sich zu Beginn dieses Jahres bei REACH-IT einloggen wollte, stieß auf der Homepage der ECHA) auf die folgende Meldung:

“The number of concurrent REACH-IT users is high and the system is exhibiting slow behaviour.

ECHA is monitoring the system performance and making improvements to its robustness.”

Wer es dennoch endlich geschafft hatte, sich einzuloggen, flog oft wieder raus, bevor er alle ihn betreffenden Meldungen studiert hatte. Wer sich darüber beschweren oder beim Help Desk der ECHA um Rat fragen wollte, landete in der Regel in einer Sackgasse. Stunden um Stunden vergingen mit neuen Versuchen, sich einzuloggen. Einige europäische Firmen versuchten mithilfe ihrer amerikanischen Töchter oder Niederlassungen, sich außerhalb der europäischen Geschäftszeiten Zugang zum Server der ECHA in Helsinki zu verschaffen. Am 19. Januar meldete sich schließlich ECHA-Exekutivdirektor Geert Dancet und kündigte an, in den kommenden Monaten würden verschiedene Schritte zur Verbesserung der REACH-IT unternommen.

Darüber entrüstete sich in einem Schreiben vom 21. Januar CEFIC-Generaldirektor Alain Perroy. Die von der deadline 30. November 2010 betroffenen Firmen könnten keineswegs noch Monate lang warten, sondern befänden sich bereits im Endspurt. Nur über die REACH-IT könnten sie erfahren, mit welchen Firmen sie Kontakt aufnehmen müssen, um ein SIEF zu bilden, dort dann die Identität (sameness) der registrierpflichtigen Stoffe zu prüfen, Stoffdaten auszutauschen, Wissenslücken auszumachen und Teststrategien und deren Finanzierung festzulegen, um fehlende Daten zu generieren.

Die überraschend große Zahl von Vorregistrierungen stellt an sich schon ein organisatorisches Problem dar. Es wird vermutet, dass viele Stoffanwender vorregistriert haben, obwohl sie gar nicht die Absicht haben, etwas zu registrieren. Vielmehr scheint es ihnen darum gegangen zu sein, über die automatische Einladung zur Teilnahme an SIEFs Informationen über potenzielle Kunden und Wettbewerber zu erhalten. Wegen der bei vielen Anwendern herrschenden Verunsicherung wurden auch viele Substanzen vorangemeldet, deren Jahresproduktion unterhalb der für REACH gültigen Mengenschwelle von einer Jahrestonne liegt. Außerdem finden sich auf der Liste etliche Endprodukte, die nicht unter die Stoffdefinition von REACH fallen. Die lange Liste der Vorregistrierungen muss deshalb aufwändig bereinigt werden. So gehen Monate ins Land, bevor die SIEF sich im Detail um die Datenlage der registrierpflichtigen Stoffe kümmern können, zumal es nach wie vor eine Menge rechtlicher Probleme zu klären gibt. Bis schließlich ein „lead registrant“ am Ende die Registrierung durchführt und deren Kosten auf die einzelnen SIEF-Mitglieder umlegt, können weitere Monate vergehen. Deshalb kommen immer mehr Zweifel auf, ob die Fristen für die Registrierung überhaupt eingehalten werden können. Manche Industrievertreter halten es (hinter vorgehaltener Hand) nicht für ausgeschlossen, dass die Umsetzung von REACH schon in der ersten Etappe stecken bleibt. Leben könnten sie damit ganz gut, denn die Vorregistrierung verschafft vielen von ihnen erst einmal eine Atempause.

Zu den ungelösten juristischen Problemen der SIEF zählt der Status der Only Representatives (OR) für die Registrierung von Stoffen, die in die EU importiert werden. Das gilt insbesondere für Stoffe, die in China und Indien produziert werden. Nach Ansicht von Nicolas Gardères, Anwalt in der Pariser Kanzlei Denton Wilde Sapte, ist es nach wie vor unklar, wie weit die OR bei eventuellen Schadensersatzansprüchen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können, zumal etliche EU-Mitgliedsstaaten, wie die ECHA im Dezember meldete, ihr Strafrecht noch immer nicht um die mit REACH verbundenen Verpflichtungen und Straftatbestände ergänzt haben.

Kommen schon die obligatorischen SIEF kaum ohne detaillierte anwaltliche Beratung aus, so ist der juristische Beratungsbedarf, wie Gardères unterstreicht, bei der Bildung freiwilliger Registrierungs-Konsortien noch erheblich größer. Nach dem geltenden Kartellrecht dürfen Konsortien unter keinen Umständen dazu dienen, ihren Mitgliedern einen wirtschaftlichen Vorteil gegenüber Wettbewerbern zu verschaffen oder bestimmte Marktteilnehmer zu diskriminieren. Das ist im Konfliktfall schwer zu beweisen.

Inzwischen hat die ECHA eine vorläufige Liste von sieben Stoffen veröffentlicht, die in einer öffentlichen Stakeholder-Anhörung aus der Ende Oktober 2008 veröffentlichten „Kandidatenliste“ besonders bedenklicher Substanzen ausgewählt wurden, um sie für den Anhang XIV der Liste zulassungspflichtiger Stoffe vorzuschlagen. Dabei handelt es sich um den synthetischen Duftstoff Moschus Xylen, um kurzkettige chlorierte Paraffine, um das Flammschutzmittel Hexabromcyclododecan (HBCDD) und seine Isomere, um 4,4’-Diaminodiphenylmethan (MDA) sowie um die als Kunststoff-Weichmacher verwendeten Phthalate DEHP, BBP und DBP. Dass sich das in Medizinprodukten wie Blutbeuteln oder Magensonden nur schwer ersetzbare DEHP auf der Liste befindet, wird nur auf dem Hintergrund der seit Jahren von Greenpeace und anderen Interessengruppen gegen den bewährten, aber toxikologisch nicht abschließend beurteilten Weichmacher geführten Kampagne verständlich. Über entsprechende Web-Formulare kann diese vorläufige Liste bis zum 14. April kommentiert werden.

Industriechemiker, die zurzeit buchstäblich Tag und Nacht mit der REACH-IT kämpfen, fürchten, dass ihre aufopferungsvolle Arbeit letztlich nicht mehr bewirkt als einen riesigen Datenfriedhof zu erzeugen, der die Illusion nährt, durch das bürokratische Monster REACH werde das tägliche Leben der EU-Bürger etwas sicherer.

Edgar Gärtner (erschienen in: CR-Chemische Rundschau Nr. 1-2/2009)

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REACH – Wende in der Stoffbewertung oder teures Theater?

Die neue Europäische Umweltagentur (ECHA) in Helsinki hat am 1. Juni 2008 mit dem Beginn der Vorregistrierung von Stoffen nach einer einjährigen Vorbereitungszeit offiziell ihre operative Tätigkeit begonnen. Zwar erreicht die Zahl der fest eingestellten qualifizierten Mitarbeiter der Agentur mit etwas über 200 noch längst nicht das ursprünglich einmal ins Auge gefasste Niveau. Doch der Agenturchef Geert Dancet gibt sich zuversichtlich, dass die Mitarbeiterzahl bis 2010 auf 450 (davon zwei Drittel Wissenschaftler) ansteigen wird. Auf den ersten Blick erscheint der Start der Agentur durchaus gelungen. Über 9.000 Firmen haben sich beim REACH-IT-System der Online-Registrierung angemeldet. (Das ist allerdings nur etwa ein Viertel aller europäischen Chemiefirmen.) Bis Mitte September waren bereits 352.641 Vorregistrierungen eingegangen. Davon allein 141.185 aus Deutschland und 138.434 aus Großbritannien. An dritter Stelle folgen die Niederlande mit 17.356 Vorregistrierungen, danach Italien mit 13.989 und Frankreich mit 9.945. Ende September 2008 erreichte die Gesamtzahl der Vorregistrierungen nach Angaben Dancets schon 402.584. Allerdings wies ein Teil davon Formfehler auf (siehe Kasten) und zwei Firmen haben sogar das ganze EU-Verzeichnis EINECS von über 100.000 Altstoffen vorangemeldet.

Deshalb fleht Dancet alle betroffenen Firmen an, doch bitte nur Substanzen voranzumelden, die sie später auch tatsächlich registrieren wollen. Andernfalls werde die Arbeit der Substance Exchange Fora (SIEF), zu denen die Vorregistrierer nach der Einreichung ihres Dossiers automatisch geladen werden, unnötig erschwert, wenn nicht völlig sabotiert. „Die vorregistrierende Firma kann dann zum einen unmöglich an allen SIEFs teilnehmen, zu denen sie geladen wird. Zum andern fehlt den nachgeschalteten Anwendern die Möglichkeit, zu überprüfen, welche der von ihnen dringend benötigten Roh- und Hilfsstoffe vorregistriert wurden, und können die ECHA nicht auf Stoffe aufmerksam machen, die auf der Liste fehlen“, erklärt Dancet.

Anna-Liisa Sundquist, die Vorsitzende des Ausschusses der EU-Mitgliedsstaaten bei der ECHA, weist zudem mit Nachdruck darauf hin, dass Hersteller außerhalb der EU Stoffe nicht unmittelbar, sondern nur mithilfe eines Alleinvertreters (Only Representative) in der EU registrieren können. „Das hat sich zu unserer Überraschung in vielen Teilen der Welt noch nicht herumgesprochen“, gibt Sundquist zu. Gleichzeitig räumt sie ein, dass auch viele kleine und mittlere Unternehmen in der EU mit den komplizierten Bestimmungen von REACH schlicht überfordert sind. Nina Mähönen-Antink vom bekannten, auf die Kommunikation in der Lieferkette spezialisierten finnischen IT-Beratungsunternehmen REACHWAY Oy bestätigt, dass viele kleine und mittlere Unternehmen in der EU sich noch gar nicht ernsthaft mit REACH beschäftigt haben und keine Anstalten machen, ihre Stoffe zu registrieren, weil sie entweder davon ausgingen, das bürokratische Monstrum werde ohnehin nicht funktionieren oder eine Geschäftsaufgabe vor Ablauf der Registrierungsfrist in zehn Jahren ins Auge fassen. Anna-Liisa Sunquist räumt ein, es sei noch völlig unklar, wie verfahren werden könne, sollte es sich gegen Ende dieses Jahres herausstellen, dass wichtige Substanzen gar nicht auf der Liste der vorregistrierten Stoffe erscheinen.

Ohnehin, so Sundquist weiter, müsse man sich nicht nur auf das Fortbestehen großer rechtlicher Grauzonen, sondern auch auf die Entstehung eines grauen Marktes für nicht registrierte und/oder nicht zugelassene Substanzen einstellen. Denn die Überwachung der Einhaltung der REACH-Vorschriften obliege nationalen Behörden. Zwar versuche die ECHA das Monitoring durch die Erarbeitung von Leitlinien zu harmonisieren. Doch niemand könne garantieren, dass diese in allen EU-Mitgliedsstaaten gleich streng befolgt werden. Außerdem werde wohl auch eine Reihe als potenziell gefährlich erkannter Chemikalien mangels verfügbarer Alternativen mit offizieller Genehmigung im Gebrauch bleiben. Bislang haben die EU-Mitgliedsstaaten nur 16 Stoffe für die so genannte „Kandidatenliste“ bedenklicher Substanzen nach REACH Art. 57, Anhang XV vorgeschlagen. Der Ausschuss der Mitgliedsstaaten wird demnächst die inzwischen zu den einzelnen Stoffen eingegangenen Kommentare im Detail diskutieren und voraussichtlich Ende Oktober 2008 die erste offizielle „Kandidatenliste“ vorlegen. ECHA-Chef Geert Dancet schließt nicht aus, dass diese sogar weniger als 16 Stoffe enthalten wird. Und nur ein Teil davon werde wohl im Anhang XIV der genehmigungspflichtigen Stoffe landen. Die Anhänge XIV und XV sollen alle zwei Jahre aktualisiert werden. Umweltverbände fordern dagegen, bis zu 2.000 Stoffe vordringlich unter die Lupe zu nehmen und auf „schwarze Listen“ zu setzen.

Auch Geert Dancet gibt offen zu, dass sich die Umsetzung der REACH-Verordnung am Rande der Legalität bewegt. Denn REACH schafft keinen neuen Rechtsrahmen, die Verordnung darf dem Maastricht-Vertrag der EU wie den nationalen Bestimmungen des Zivil- und Strafrechts über Wettbewerb, geistiges Eigentum und die Gültigkeit von Verträgen nicht widersprechen. So bewegen sich die von den europäischen Gesetzgebern und der ECHA erwünschten Konsortien für die gemeinsame Nutzung von Stoffdaten von Wettbewerbern zur Vermeidung unnötiger Tierversuche hart am Rande des nach dem Kartellrecht noch Erlaubten. Schon in den SIEFs gibt es Probleme mit der Geheimhaltung vertraulicher Geschäftsinformationen und mit der gerechten Aufteilung der Kosten – zumal, wie zu hören ist, etliche der beteiligten Firmen versuchen, selbst alte Tierversuchsdaten zu Geld zu machen. Einige dieser Probleme lassen sich durch Einschaltung neutraler Berater lösen, wodurch allerdings zusätzliche Kosten entstehen.

Geert Dancet weist in diesem Zusammenhang auf Folgendes hin: „In einigen Fällen kann die freie Verwendung von Daten durch das Gesetz oder durch Entscheidungen der Regulierungsbehörden erlaubt sein, z.B. im Rahmen der so genannten 12-Jahres-Regelung. Nach den Bestimmungen von REACH kann jede Studie beziehungsweise robuste Zusammenfassung von Studien, die im Rahmen einer Registrierung vor mindestens 12 Jahren eingereicht wurde, für die Registrierung nach REACH von jedem anderen Hersteller oder Importeur verwendet werden. Der Nachweis des rechtmäßigen Besitzes ist nicht notwendig für Daten, die vor mindestens 12 Jahren registriert wurden. Das gilt unter gewissen Umständen auch bei Anfragen oder wenn Parteien, wie im Leitfaden über das Data-Sharing beschrieben, sich in einem SIEF nicht über die gemeinsame Nutzung von Daten einigen. Unter gewissen Umständen kann die ECHA die Erlaubnis zur Verwendung von Daten erteilen.“

Dancet hält aber die besonders in der mittelständischen Wirtschaft verbreitete Angst vor dem Verlust geistigen Eigentums für unbegründet: „Wir versichern, dass REACH keine negativen Auswirkungen auf das Urheberrecht haben wird. REACH verlangt in der Tat, dass die Registrierer in der Regel im legitimen Besitz von Summaries auf der Grundlage vollständiger Studien oder eines legitimen Zugangs zu Robust Study Summaries sind, der in den Registrierungsunterlagen belegt werden muss. Das gilt auch für Robust Study Summaries aus dem Internet (z.B. aus dem OECD/ICCA HPV Programms oder dem US HPV Chemical Challenge Program). Darüber hinaus sollte man beim Herunterladen öffentlich zugänglicher Studien sorgfältig prüfen, ob deren Verwendung Urheberrechte verletzt.“ Wird das die Adressaten beruhigen?

Ungeklärt sind auch der rechtliche Status und die strafrechtliche Verantwortung der für die Anmeldung importierter Stoffe obligatorischen Alleinvertreter in der EU. „Hände weg vom Import fertiger Zubereitungen!“, rät deshalb Liisa Rapeli-Likitalo der europäischen Industrie. Da stehe man gleich mit einem Bein im Gefängnis. Die kleine, aber energische Frau ist zurzeit bei dem auf die Wasser- und Holzchemie spezialisierten finnischen Konzern Kemira Tag und Nacht damit beschäftigt, Stoffe ordnungsgemäß voranzumelden. Dabei machen ihr nicht nur Probleme mit der Registrierungs-Software IUCLID 5 und dem universellen Identifizierungscode UUID zu schaffen, sondern auch rechtliche Grauzonen. „REACH ist vor allem ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Anwälte und nichts für Menschen, die nicht gelernt haben, mit Ungewissheit zu leben“, resümiert sie ihre Erfahrungen.

ECHA-Chef Dancet gibt denn auch zu: „Uns bleibt noch viel zu tun, um zwischen unserer Behörde, der Industrie, den Gewerkschaften sowie den Umwelt- und Verbraucherverbänden eine transparente Vertrauensbasis aufzubauen und die ECHA zur wichtigsten Quelle für wissenschaftlich verlässliche Stoffinformationen zu machen.“ Nach der für Ende 2008/Anfang 2009 vorgesehenen Publikation der Liste vorregistrierter Stoffe wird die ECHA mit der Registrierung der großvolumigen Stoffe beschäftigt sein. Dancet erwartet, dass im Jahre 2010 nicht weniger als 20.000 Registrierungs-Dossiers bearbeitet werden müssen. Sollte es sich am Ende herausstellen, dass REACH, statt eine neue Ära der harmonisierten Stoffbewertung einzuleiten, vieles beim Alten lässt, wird das aber vermutlich weder in Brüssel noch in Helsinki jemand zugeben wollen. Die EU-Bürokratie wird sich wohl mit den Anspruchsgruppen darauf einigen, den Verbrauchern und Steuerzahlern ein Theater vorzuspielen. Darin fehlt es den EU-Behörden nicht an Übung.

Edgar Gärtner

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Die fünf häufigsten Gründe für die Zurückweisung von Registrierungsdossiers durch die ECHA:

• Die im Einreichungsformblatt angegebene UUID (Identitätsnummer) stimmte nicht mit dem UUID des eingereichten IUCLID 5 Dossiers überein;

• Das Unternehmen hat sich nicht vorher bei REACH-IT angemeldet oder die Unternehmens-UUID falsch angegeben;

• Es wurde keine digitale Fassung des Einreichungsformblatts und/oder IUCLID 5 Dossier vorgelegt;

• Das eingereichte Dossier entsprach nicht dem XML Format;

• Das Bestätigungsfeld am Ende des Einreichungsformulars wurde nicht angeklickt.

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(veröffentlicht in: Chemische Rundschau Nr. 10/2008, VS-Medien, CH-Solothurn)