Sisyphus im Dienste der Umwelt: Chemischer Pflanzenschutz

Von Edgar L. Gärtner

Chemische Pflanzenschutzmittel (Pestizide) gelten heute als Problemstoffe, deren Entwicklung, Herstellung, Vermarktung und Anwendung strengen gesetzlichen Vorschriften unterliegt. Gerade ist die Europäische Union wieder einmal dabei, mit der Verordnung EG 1107/2009, die im Juni 2011 in Kraft treten wird, die Zu-lassung von Pflanzenschutzmitteln neu zu regeln, um noch strengeren Umwelt-schutz-Anforderungen gerecht zu werden. Das Inverkehrbringen vieler hochwirk-samer, aber potenziell gesundheits- oder umweltschädlicher Substanzen wird dann von vornherein gar nicht mehr erlaubt sein, selbst wenn diese bislang sicher gehandhabt wurden.

1. Historisches
Es gab Zeiten, da hatten chemische Pflanzenschutzmittel einen weitaus besseren Ruf. Acker- und Obstbauern und erst recht die Winzer wussten, dass sie ohne Chemie gegen Unkraut und Schädlinge wie Pilze, Fadenwürmer oder gar gegen die mitunter auftretende Massenvermehrung von Schadinsekten wie Wanderheu-schrecken kaum Chancen hatten. Das galt übrigens selbst für „biologisch“ beziehungsweise „organisch“ arbeitende Landwirte. Diese lehnen zwar den Einsatz chemischer Kunstdünger ab, kommen aber bei der Schädlingsbekämpfung auch nicht ohne Chemie aus. Bis in die jüngste Zeit galt bei ihnen Kupfersulfat-Kalkbrühe („Bouillie bordelaise“) als Mittel der Wahl für die Bekämpfung von Mehltau und anderen durch Pilze und Insekten verursachte Pflanzenkrankheiten. Dabei war Kupfersulfat wegen seiner hohen Giftigkeit und Beständigkeit längst aus dem konventionellen Obst- und Weinbau verbannt und durch biologisch leicht abbaubare synthetische Wirkstoffe (zum Beispiel Strobilurin-Analoge) ersetzt worden.
Neben Kupfersulfat waren vor der gezielten Synthese organischer Pflanzenschutz-Wirkstoffe starke Gifte wie Salze von Arsen und Quecksilber, elementarer Schwefel und daneben Öle und verschiedene Pflanzenextrakte (etwa von Tabakpflanzen oder Chrysanthemen) im Einsatz. Schon seit dem Altertum waren auch mechanische Vorkehrungen wie das Anbringen von Leimringen an Obstbäumen oder das Aufstellen von Vogelscheuchen auf Feldern gebräuchlich. Oft mussten sich die Bauern aber aufs Beten verlassen. Über Jahrhunderte konnte die Produktivität der Landwirtschaft nur allmählich gesteigert werden. Das änderte sich schlagartig nach dem Zweiten Weltkrieg. Zwischen 1950 und dem Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich die Weltgetreideproduktion mehr als verdreifacht. Neben der Mechanisierung ist die Chemisierung der Landwirtschaft, d.h. der Einsatz von Kunstdünger und synthetischen Schädlingsbekämpfungsmitteln, der Hauptgrund für diesen Erfolg. Aber bis heute ist der Schutz von Nutzpflanzen gegen verschiedenartige Schädlinge eine Sisyphus-Arbeit geblieben. Das geringste Problem dabei ist noch die von sensationshungrigen Massenmedien oft übertriebene Furcht vor Gift-Rückständen in Nahrungsmitteln. Viel ernster ist die Problematik der Resistenzbildung gegen bewährte Schädlingsbekämpfungsmittel. Deshalb muss ständig nach neuen Wirkstoffen gefahndet werden. Diese Suche wird immer aufwändiger. In der Tendenz hat heute nur eine von etwa 100.000 untersuchten Verbindungen gute Chancen auf dem Markt. Deshalb können sich nur noch große Konzerne in der Pflanzenschutzforschung engagieren.

2. Beispiele für Nutzen und Risiken chemischer Pestizide
Um Nutzen und Risiken chemischer Pflanzenschutzmittel nüchtern beurteilen zu können, ist eine differenzierte Betrachtung der verschiedenen Anwendungsgebiete notwendig. Während der Kahlfraß ganzer Ländereien durch Wanderheuschrecken schmerzhafte Einzelereignisse darstellen, schafft der weitaus weniger spektakulä-re Befall von Nutzpflanzen durch Pilze viel nachhaltigere Probleme. Erinnert sei nur an die gesundheitlichen Folgen des Befalls von Getreide mit dem Mutterkorn-Pilz Claviceps pupurea im Mittelalter oder an die demografischen Folgen der Kartoffelfäule zwischen 1845 und 1851 in Irland, verursacht durch den Pilz Phytophthora infestans. Fungizide stellen deshalb bis heute die mengenmäßig bedeu-tendste Gruppe von Pflanzenschutzmitteln dar. Danach kommen Insektizide und Herbizide. Es folgen Nematizide, Rodentizide, Akarizide und andere, die hier des beschränkten Platzes halber nicht im Einzelnen betrachtet werden.

Produzierte Wirkstoffmenge in Deutschland (IVA Mitgliedsfirmen)
In Tonnen Veränderung in Prozent
2007 2008 2009 2008/2009
Herbiszide 16.693 19.633 17.496 -10,9
Fungizide 42.639 61.765 55.896 -9,5
Insektizide 17.221 23.223 13.983 -39,8
Sonstige 10.180 11.135 8.058 -27,6
Summe 86.733 115.756 95.433 -17,6
Quelle: Industrieverband Agrar (IVA), Jahresbericht 2009/2010

2.1 Insektizide
Historisch begann der Einzug der synthetischen Chemie in die Landwirtschaft allerdings nicht mit den Fungiziden, sondern mit Insektiziden, und zwar im Jahre 1892 mit dem von BAYER hergestellten Dinitrokresol (Antinonnin). Der Siegeszug synthetischer Pestizide in der Landwirtschaft startete aber erst so richtig mit der Entdeckung der insektiziden Eigenschaften von Dichlor-Diphenyl-Trichlorethan (DDT) im Jahre 1939 durch den schweizerischen Chemiker Paul Hermann Müller von der Firma Geigy. Müller wurde dafür im Jahre 1948 mit dem Nobelpreis geehrt. Erstmals synthetisiert worden war DDT schon 1874 vom österreichischen Chemiker Othmar Zeidler. Das durch Umsetzung von Chloralhydrat und Chlorbenzol in konzentrierter Schwefelsäure im Batch-Verfahren einfach herstellbare DDT-Pulver hatte sich am Ende des Zweiten Weltkrieges unter anderem nach der Landung der Alliierten in Süditalien bei der Bekämpfung von Stechmücken und Läusen sowie bei einer durch Mücken verbreiteten Typhus-Epidemie in Neapel eindrucksvoll bewährt. Es erwies sich später in den tropischen Zonen Afrikas und Asiens als eine Art Wunderwaffe im Kampf gegen die Malaria übertragenden Anopheles-Mücken. Die in hohem Maße tödliche Parasiteninfektion Malaria, die noch zu Beginn der 50er Jahre allein auf der Insel Ceylon (Sri Lanka) Jahr für Jahr einige Millionen Menschenleben gefordert hatte, war zu Beginn der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts dank des Einsatzes des äußerst billigen und lange wirksamen Insektizids in Form einer systematischen „DDT-Kur“ mit hohen Dosen bis auf eine Hand voll Fälle zurückgedrängt worden.
Doch der Siegeszug des DDT währte nicht lange. Im Jahre 1962 veröffentlichte die amerikanische Autorin Rachel Carson unter dem Titel „Silent Spring“ ein Buch über bedenkliche Nebenwirkungen von DDT und anderen synthetischen Pestiziden, das wie eine Bombe einschlug. Obwohl der Plot dieses Buches weitgehend auf Science Fiction beruht, beschreibt es doch reale Gefahren, die mit der Langlebigkeit chlororganischer Verbindungen zusammenhängen. Es braucht zehn Jahre, bis in Ackerböden gelangtes DDT zur Hälfte abgebaut wird. Diese lange Verweilzeit begünstigt zum einen die Ausbildung von Resistenzen bei Schadinsekten und zum andern die biologische Anreicherung von DDT-Rückständen beziehungsweise –Metaboliten in Böden und entlang der Nahrungsketten von Kleinmilben über Würmer bis zu Vögeln und Säugern. Da DDT stark lipophil ist, kann es im Fettgewebe von Top-Prädatoren (zum Beispiel Adlern) bedenkliche Konzentrationen erreichen. In den USA wurde der massive DDT-Einsatz für den sinkenden Bruterfolg des Weißkopf-Seeadlers, des US-Wappentiers, verantwortlich gemacht. Streng beweisen ließ sich das allerdings nicht. Eine von der US-Umweltbehörde EPA unter Leitung von Edmund M. Sweeny durchgeführte Anhörung kam jedenfalls zum Schluss, der Nutzen des DDT-Einsatzes übersteige deutlich die mit seinen Nebenwirkungen verbundenen Kosten, zumal die Gesundheitsrisiken verfügbarer Ersatzstoffe viel größer seien als beim DDT. Dabei dachte Sweeny wohl an die schon seit 1938 von Gerhard Schrader bei BAYER entwickelten Insektizide auf der Basis von Phosphorsäureestern. Diese waren zwar leicht biologisch abbaubar, gefährdeten aber als starke Nervengifte die Gesundheit der Landarbeiter, die mit ihnen in Berührung kamen.
Dennoch sprach sich William D. Ruckelshaus, der erste Direktor der 1971 neu geschaffenen US-Umweltbehörde, 1972 für ein Verbot von DDT aus. Dabei stützte er sich auf den Verdacht, DDT sei krebserregend. Obwohl die zuständigen Experten-Gremien diesen Verdacht schon damals für unbegründet hielten, setzte sich Ruckelshaus über deren Rat hinweg, weil er dachte, dem Anliegen des Umweltschutzes einen Dienst erweisen zu können, indem er DDT aus Gründen der Vorsorge dennoch mit einem Bann belegte. Die Folgen ließen nicht auf sich warten. Kaum hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahre unter Hinweis auf das Auftauchen DDT-resistenter Anopheles-Mücken einen Anwendungsstopp für DDT erlassen, schnellte die Zahl der Malaria-Kranken wieder bis fast auf den ursprünglichen Stand hoch. Heute schätzt die WHO, dass weltweit jedes Jahr 300 bis 500 Millionen Menschen neu mit dem Malaria-Erreger infiziert werden. Davon stirbt schätzungsweise ein Zehntel. Modernere Insektizide können sich die betroffenen armen Länder kaum leisten. Deshalb hat die WHO inzwischen DDT wieder für das Besprühen von Häuserwänden als Malaria-Prophylaxe zugelassen. Dabei benötigt man nur sehr geringe Mengen des umstrittenen Insektizids, was die Gefahr einer biologischen Anreicherung in Grenzen hält.
Aus den übrigen Anwendungsgebieten wurden die persistenten chlororganischen Pestizide (neben DDT waren bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts auch Chlordan, Lindan, Aldrin und Dieldrin von Bedeutung) inzwischen längst durch biologisch gut abbaubare verdrängt. Erwähnt wurden bereits die Phosphorsäureester. Diese hemmen das für die Nervenreizleitung über Synapsen notwendige Enzym Azetylcholinesterase und eignen sich deshalb auch für die chemische Kriegsführung. 1944 entdeckte Gerhard Schrader bei BAYER, dass sich auch die weniger gefährlichen Thio-Phosphorsäureester gut als Insektizide eignen. Bekanntestes Beispiel dafür ist Parathion (E 605), das bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts als Standardmittel im Gemüseanbau diente, mitunter aber auch für Giftmorde missbraucht wurde. Daneben gelangten die Carbamate, d.h. Harnstoffderivate wie Carbaryl, Aldicarb oder Carbofuran zu einiger Bedeutung (zum Beispiel im Zuckerrübenanbau). In jüngerer Zeit wurden diese in manchen Anwendungsbereichen durch Neonicotinoide (wie zum Beispiel das unter dem Markennamen „Gaucho“ angebotene Imidacloprid) als Beizmittel abgelöst. Diese docken fest am nikotinischen Azetylcholin-Rezeptor an und bewirken durch eine Dauerreizung das Gleiche wie die Unterbrechung der Reizleitung durch Phosphorsäureester und Carbamate. Im Unterschied zu diesen sind sie aber schlecht abbaubar und können sich deshalb in Böden anreichern. Bei falscher Anwendung kann es zum „Bienensterben“ kommen.
Seit der Mitte der 70er Jahre haben wieder Insektizide an Bedeutung gewonnen, die wie das DDT nicht die Acetylcholinesterase, sondern Natriumkanäle der peripheren Insektennerven blockieren und deshalb vergleichweise langsam wirken. Es handelt sich um die Pyrethroide, d.h. um synthetische Abkömmlinge des in natürlichen Chrysanthemen gebildeten Pyrethrins (wie Allethrin, Permethrin, Del-tamethrin, Cyfluthrin usw.). Sie sind für Insekten etwa 400 mal giftiger als das natürliche Pyrethrin, für Menschen aber nur schwach giftig. Sie wurden deshalb auch für die Ausrüstung von Teppichen und anderen Heimtextilien eingesetzt. Bei empfindlichen Personen können Pyrethrine dennoch Übelkeit und Kopfschmerzen auslösen.

2.2 Herbizide
Vor dem Zweiten Weltkrieg standen zur Bekämpfung von Unkräutern außer dem Jäten nur unspezifisch wirksame anorganische Stoffe wie Eisen- und Kupfersulfat oder Natriumchlorat zur Verfügung. Im Jahre 1942, das heißt fast zur gleichen Zeit wie das DDT, entdeckte ein für die Steigerung der Agrarproduktivität in Kriegszeiten eingesetztes britisches Team unter Leitung von Judah Hirsch Quastel, dass 2,4-Dichlorphenoxyessigsäure (bekannt unter dem Kürzel 2,4-D) als synthetisches Analogon zum natürlichen Pflanzenhormon Auxin wirkt. Wie dieses fördert 2,4-D in geringer Konzentration das Pflanzenwachstum, führt aber in höherer Konzentration zum Absterben der behandelten Pflanzen durch Nährstoffmangel. 2,4-D wird aus Chloressigsäure und 2,4 Dichlorphenol hergestellt. Mit dem 2,4-D verwandt ist das ebenfalls zu Beginn der 40er Jahre entdeckte Herbizid 2,4,5-T (Trichlorphenoxyessigsäure). Es wirkt vor allem auf breitblättrige Pflanzen und eignet sich deshalb zur gezielten Unterdrückung breitblättriger Unkräuter in grasartigen Getreidesaaten. 2,4,5-T erlangte einen schlechten Ruf, weil es von der US Air Force im Vietnam-Krieg als „Agent Orange“ für die Entlaubung von Wäldern eingesetzt wurde und weil es sich herausstellte, dass es Spuren von 2,3,7,8-tetrachlorodibenzo-p-dioxin (TCDD), enthielt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden dann verstärkt die bereits als Insektizide bekannten Carbamate eingesetzt. Seit den 60er Jahren wurde diese durch Triazin-, Diazin-, Diphenylether- und Amidderivate abgelöst. Bekanntester Vertreter der Chlortriazine ist das Atrazin, das hauptsächlich im großflächigen Maisanbau eingesetzt wurde, und zwar in relativ hohen Dosen. Atrazin unterbricht in Grünpflanzen die Elektronenransportkette im Photosystem II, und ist deshalb für Säuger nur wenig giftig. Es kam dennoch in Verruf, weil es im Herbst 1986 nach dem Brand eines Chemie-Lagers bei Basel zusammen mit anderen Pestiziden ein Fischsterben im Rhein auslöste und weil es neben Nitrat-Rückständen aus überdüngten Maisfeldern im Grundwasser nachgewiesen wurde, wobei es fraglich blieb, ob das wirklich ein Risiko für die Trinkwassergewinnung aus Grundwasser darstellte. Jedenfalls wurde der Einsatz von Atrazin in der Europäischen Union ab 1. April 1991 wegen seines zu langsamen Abbaus im Boden verboten.
Deshalb wurden die Triazine und andere Photosynthesehemmer als Breitband- bzw. Vorlauf-Herbizide seit den 90er Jahren durch Aminosäuresynthesehemmer wie Glyphosat (Handelsname „Roundup“) oder Glufosinat (Handelsname „Basta“) abgelöst. Glyphosat, das umsatzstärkste Herbizid auf dem Weltmarkt, hemmt gezielt die Synthese aromatischer Aminosäuren über den Shikimisäureweg. Da dieser Syntheseweg bei Tieren nicht existiert, wirkt Glyphosat nur bei Pflanzen. Ähnlich selektiv wirkt Glufosinat, das die Synthese von L-Glutamin hemmt.
Als Aminosäurederivate werden Glyphosat und Glufosinat biologisch leicht abgebaut. Als die Firma Monsanto 1996 gentechnisch verändertes Saatgut einführte, das gegen „Roundup“ resistent ist, also zusammen mit dem Breitbandherbizid ausgebracht werden kann, wurde sie dennoch zum Ziel heftiger Angriffe durch verschiedene Nichtregierungs-Organisationen, da befürchtet wurde, diese Kombination mache die Landwirte von einem einzigen Konzern abhängig. Zusätzliche Nahrung erhielt dieser Widerstand durch die generelle Ablehnung Grüner Gentechnik durch „grüne“ politische Parteien und Bewegungen.

2.3 Fungizide
Da das Abtöten der widerstandsfähigen Pilzsporen nicht einfach ist, wurden bei der Bekämpfung von Pflanzenkrankheiten durch Pilzbefall Jahrhunderte lang besonders aggressive Chemikalien wie Quecksilber- und Arsen-Salze eingesetzt. Bis heute wird Bordeaux-Brühe im Bio-Landbau als Universal-Fungizid eingesetzt, obwohl es etwa 1.000 Prozent giftiger als das im Öko-Anbau bislang nicht erlaubte synthetische, aber biologisch abbaubare Fungizid Thiabenzadol. Kupfersulfat kann bei Winzern schwere Leberschäden verursachen und die freigesetzten Kupfer-Ionen können sich unter den Weinstöcken über die Jahre so stark anreichern, dass Regenwürmer und andere für die Bodenfruchtbarkeit wichtige Organismen dort nicht mehr leben können und schließlich ein kompletter Bodenaustausch erforderlich wird. Damit bei der Zulassung von Fungiziden nicht weiterhin mit zweierlei Maß gemessen wird, hat die EU-Kommission im Januar 2009 verfügt, dass Kupfersulfat im Bio-Anbau nur noch für maximal sieben Jahre zugelassen bleibt. Somit steht nun auch die Bio-Branche unter großem Innovationsdruck und es zeichnet sich ab, dass die Grenzen zwischen konventioneller und ökologischer Landwirtschaft immer durchlässiger werden.
Obwohl Quecksilbersalze für die Saatgutbeize noch bis in die 80er Jahre zugelassen waren, wurden im konventionellen Landbau anorganische Spritz- und Saatgutbeizmittel im 20. Jahrhundert nach und nach durch organische Wirkstoffe wie Dithiocarbamate, Carboxanilide, Phthalimide, Imidazole, Benzimidazole und Strobilurine verdrängt. Bei der zuletzt genannten Stoffgruppe machten sich Chemiker von BASF und Zeneca (heute Syngenta) die Tatsache zunutze, dass es zwischen verschiedenen Pilzen einen chemischen Krieg mithilfe von Strobilurinen gibt. Da die natürlichen Strobilurine instabil sind, stellten Chemiker im Labor ähnlich wirksame synthetische Analoge her. Seit 1996 sind die synthetischen Wirkstoffe Azoxystrobin und Kresoxim-methyl auf dem Markt. Im Jahre 2003 folgte das Dimoxystrobin. Strobilurine hemmen das Coenzym Q für den Elektronentransport in der Atmungskette und verhindern so die Energiegewinnung. Es wird befürchtet, dass das die Resistenzbildung begünstigt.

3. Wirtschaftliche Aspekte
Der Weltmarkt für Pestizide ist im vergangenen Jahrzehnt nur gerechnet in US-Dollars expandiert. Gerechnet in Euro, zeigen sich eher Stagnationstendenzen. Das Marktvolumen schwankte in den letzten Jahren zwischen 25 und 28 Milliarden Euro und schrumpfte zuletzt leicht. Beim derzeit umsatzstärksten Marktsegment Herbizide gibt es infolge des Auslaufens der Lizenz für den „Blockbuster“ Glyphosat ein Überangebot von Generika, was zum Sinken der Preise im ganzen Segment geführt hat.

Entwicklung des Weltpflanzenschutzmarktes
2007 2008 2009
Weltmarkt
(in Milliarden €) 24,6 28,4 27,1*
$-Kurs 0,74 0,68 0,72
Weltmarkt
(in Milliarden $) 33,2 41,7 37,7*
* vorläufig
Quelle: Industrieverband Agrar, Jahresbericht 2009/2010

Wegen ständig steigender Anforderungen für die Genehmigung neuer Pflanzenschutz-Wirkstoffe und der Bedrohung des Marktes für bewährte Produkte durch das Aufkommen von Resistenzen wird die Entwicklung neuer Wirkstoffe immer kostspieliger. Eine von der britischen Unternehmensberatung Phillips McDougall im Auftrag des US-Dachverbandes Crop Life America und des EU-Dachverbandes European Crop Protection Association bei 14 führenden Unternehmen der Agrochemie durchgeführte Studie hat zutage gefördert, dass die Entwicklungskosten eines einzigen Wirkstoffes zwischen 1995 und 2005 bis 2008 von 152 Millionen auf 256 Millionen Dollar angestiegen sind (siehe Übersicht).

F&E-Kostenentwicklung bei Pflanzenschutz 1995-2008
Kosten in Mio. $ Veränderung in %
1995 2000 2005-8 2005-8/2000
Chemie 32 41 42 +2,4
Biologie 30 44 32 -27,3
Toxikologie/Umwelt 10 9 11 +22,2
Forschung insgesamt 72 94 85 -9,6

Chemie 18 20 36 +80,0
Feldversuche 16 25 54 +116,0
Toxikologie 18 18 32 +77,7
Umweltchemie 13 16 24 +50,0
Entwicklung insgesamt 67 79 146 +84,4

Registrierung 13 11 25 +127,3

Insgesamt 152 184 256 39,1

Quelle: Phillips McDougall (2010)

Am größten waren die Kostensteigerungen bei den Registrierungsprozeduren, die offenbar auf beiden Seiten des Atlantik immer bürokratischer werden. An zweiter Stelle folgen die Kosten der immer aufwändigeren Feldversuche und an dritter Stelle die Kosten der toxikologischen Untersuchungen. Damit im Zusammenhang stehen steigende Kosten der Umweltchemie. Von den im Zeitabschnitt 2005 bis 2008 synthetisierten 140.000 neuen Wirkstoffen gelangte nur ein einziger bis zur Registrierung. Und von der ersten Synthese bis zur Vermarktung eines Wirkstoffes vergingen fast zehn Jahre. Wesentlich günstiger scheinen deshalb die Aussich-ten für patentierbare Cocktails bekannter Wirkstoffe. So wird zum Beispiel mit in Speiseöl gelösten insektiziden Gewürzpflanzenextrakten experimentiert. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen „Bio“ und synthetischer Chemie.

4. Literatur:

Roland Dittmeyer, Wilhelm Keim, Gerhard Kreysa, Karl Winnacker, Leopold Küchler : Chemische Technik. Band 8, Ernährung, Gesundheit, Konsumgüter. 5. Auflage. Wiley-VCH, 2004, S. 218–223

Edgar L. Gärtner: Konzerne auf der Suche nach sicheren Pestiziden, in: Chemische Rundschau 62.Jg., Nr. 9/2009, S. 4-6

Dieter Jaskolla: Der Pflanzenschutz vom Altertum bis zur Gegenwart. Biologischer Bundesanstalt, Informationszentrum Phytomedizin und Bibliothek Berlin-Dahlem, November 2006

Phillips Mc Dougall: The Cost of New Agrochemical Product Discovery, Development and Registration in 1995, 2000 and 2005-8. R&D expenditure in 2007 and expectations for 2012. Final Report, January 2010.

Ulmanns Encyklopädie der technischen Chemie Bd. 18, Stichwort: Pflanzenschutzmittel, Toxikologie, 4. Auflage, Urban & Schwarzenberg

Verzeichnis zugelassener Pflanzenschutzmittel: https://portal.bvl.bund.de/psm/jsp/

(erschienen in: Reinhard Zellner und GDCh (Hrsg.): Chemie über den Wolken … und daruntrer, Wiley-VCH Verlag, Weinheim 2011