Schulze, Gerhard: Krisen. Das Alarmdilemma. S. Fischer Wissenschaft, Frankfurt am Main 2011. 250 S., geb., € 19,95
Der durch das Schlagwort „Erlebnisgesellschaft“ bekannt gewordene Bamberger Soziologe Gerhard Schulze schreibt in seinem jüngsten Buch gegen die aktuelle Diskreditierung der Skepsis durch politischen Daueralarm an. Wer zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Klima von Krise redet, müsse zuerst sagen, welches Klima er für normal hält. Doch die Definition des Normalen werde in der überhand nehmenden Krisenrhetorik meistens übersprungen. Die nur uns Menschen gegebene Fähigkeit, unser Tun von einer Meta-Ebene aus zu beobachten und zu beurteilen, werde durch das vorzeitige Abwürgen von Debatten durch einen manipulierten Notstands-Konsens außer Kraft gesetzt.
„Welch ein Schweigen würde sich in der Öffentlichkeit verbreiten, wenn sich in Krisendiskursen nur diejenigen zu Wort melden würden, die über ihr eigenes Denken nachdenken können“, bemerkt Schulze. Statt der proklamierten Verwissenschaftlichung der Politik ist es zur Politisierung der Wissenschaft gekommen. Gegenüber der Kultur der Skepsis hat sich die große Erzählung von der Schuld des Menschen durchgesetzt. „Wenn eine große Erzählung überzeugend ist, wenn viele daran glauben, wenn ständig neue Fakten die große Erzählung felsenfest zu untermauern scheinen, bis angeblich nur noch Dummköpfe und Böswillige daran zweifeln – dann sind schlechte Zeiten für die Weiterentwicklung des Wissens und den Fortgang der Moderne angebrochen“, mahnt Schulze. Wie schwarze Löcher im Weltall verleibe sich die große Erzählung alles ein, was in ihre Nähe kommt. Durch diesen Vergleich vermeidet Schulze den Totalitarismus-Begriff. Verständlich ist seine Mahnung auch so.
Weniger verständlich finde ich Schulzes Festhalten am Begriff der Moderne. Dass er diese nicht als Gesellschaftsformation im Marxschen Sinne versteht, kann man wohl voraussetzen. Dennoch verharrt er in der Pose des Aufklärers, der sich darin gefällt, das „finstere“ Mittelalter zu schmähen. Dabei zeigt seine Abhandlung meines Erachtens, dass dieses samt seiner Öffnung zum Absoluten hin als „normal“ betrachtet werden sollte.
Edgar L. Gärtner