Pera, Marcello: Warum wir uns Christen nennen müssen. Plädoyer eines Liberalen. 224 Seiten. € 19,90. Sankt Ullrich Verlag, Augsburg 2009
Der italienische Philosophieprofessor und Politiker Marcello Pera hatte von 2001 bis 2006 als Präsident des Senats das zweithöchste Staatsamt Italiens inne. Weltweit von sich reden gemacht hat er im Jahre 2008, weil er in dem zum Medienimperium seines Parteifreundes Silvio Berlusconi gehörenden Mailänder Verlag Mondadori ein Buch veröffentlichte, zu dem kein geringerer als Papst Benedikt XVI. das Vorwort schrieb. Darin schließt sich der heilige Vater der von Pera vertretenen Auffassung an, wonach es weder Multikulturalität noch einen interreligiösen Dialog geben kann. Notwendig sei stattdessen der interkulturelle Dialog.
Pera sieht als stark von Kant und Popper beeinflusster Liberaler den Liberalismus in Beliebigkeit (siehe FDP) abgleiten, sobald diesem seine christlichen Wurzeln abhanden kommen. „Relativismus, Säkularismus, Szientismus und all das, was heutzutage an die Stelle des Glaubens gesetzt wird, sind das Gift, nicht das Gegengift, sie sind die Viren, die den schon erkrankten Körper befallen, nicht die Antikörper, die ihn schützen“, warnt er. Europa sei dabei, zur am meisten entchristlichten Region des Westens zu werden, und entferne sich dadurch von Amerika. Dort gilt noch immer die von Locke, Jefferson und Kant inspirierte Maxime, so zu leben „als ob es Gott gäbe.“ Der Versuch, zu leben, „als ob kein Gott existierte“, müsse schiefgehen, da er in totalitären Allmachtsphantasien mündet. Ohne klares Bekenntnis zu seinen christlichen Wurzeln, bleibe Europa ohne Identität, erklärt Pera.
Nur wenn die Menschenrechte als „Geschenk Gottes“ und nicht als Aufgabe des Staates gesehen werden, bleiben sie nicht verhandelbar. „Ohne einen Glauben an die Gleichheit der Menschen, an ihre gleiche Würde, an ihre Freiheit und Verantwortlichkeit, mit einem Wort: ohne eine Religion des Menschen als Kind und Bild Gottes (…) kann der Liberalismus die fundamentalen und universalen Rechte der Menschen nicht aufrechterhalten“, mahnt Pera. Er sieht in dem mit der Euro-Einführung und dem Vertrag von Lissabon gewählten Weg der europäischen Einigung den Willen, „die christliche Geschichte Europas durchzustreichen.“ Das Christentum werde vom arroganten Säkularismus allenfalls noch als „Trost für die Dummen“ akzeptiert. Der „Verfassungspatriotismus“ nach Rawls und Habermas lasse eine „ethische Lücke“, die ohne eine Lehre vom Guten nicht ausgefüllt werden könne, denn sie definiere die europäische Identität kosmopolitisch, das heißt durch Abstraktion von allem spezifisch Europäischen.
Pera demonstriert den Niedergang der liberalen öffentlichen Ethik durch den Vergleich der Positionen Kants und John Stuart Mills. Bei Kant stehen die universale Vernunft und der Respekt vor der (christlich definierten) Person im Mittelpunkt, bei Mills hingegen die utilitaristische Nutzenmaximierung und der Respekt vor der individuellen Freiheit. Das heutige Europa gehe noch einen Schritt weiter, indem es die Existenz jeglicher universalen moralischer Gesetze abstreitet und Respekt vor der freien Wertewahl der Individuen fordert. Es gebe in der heutigen Gesellschaft weder einen Begriff von Wahrheit noch eine Vorstellung vom Guten und der Sünde. Über das Gute entscheidet die Wahlurne und über die Vereinbarkeit von Ansprüchen mit dem Gemeinwohl entscheiden Gerichte. Das führe letzten Endes zum „Justizimperialismus“, zur moralischen Enteignung der Personen durch eine Konsens-Demokratie mit totalitären Zügen. Der so legitimierte paternalistische Staat stelle das moralische Erbe des Christentums zur Disposition. Er zeige viel Verständnis gegenüber der Kultur islamischer Fundamentalisten, wende sich aber aggressiv gegen Christen, die nach den Zehn Geboten leben. Die Liberalen könnten den Fallen der utilitaristischen Ethik nur entgehen, wenn sie zum christlich inspirierten Rationalismus Lockes und Jeffersons zurückfinden.
Edgar L. Gärtner