Der deutsche Industrieverband Agrar (IVA), in dem 51 Unternehmen der Agro-Chemie (darunter der in der Schweiz beheimatete Marktführer Syngenta) organisiert sind, macht sich trotz guter Geschäfte Sorgen um die Zukunft der Branche. Der EU geht es jedoch weniger um die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität, sondern um die Ausweitung bürokratischer Kontrolle.
In einem im April 2011 vorgelegten Positionspapier über den Nutzen des chemischen Pflanzenschutzes weist der Industrieverband Agrar darauf hin, dass die Ära reichlicher und preisgünstiger Nahrungsmittel und anderer Agrar-Rohstoffe seit der Jahrtausendwende vorbei ist. Ohne den Einsatz von Mineraldünger und chemischer Schädlingsbekämpfung wäre die Lage längst katastrophal, denn dann bräuchte man für die Erzielung vergleichbarer Ernteergebnisse mindestes die doppelte Landfläche. Dennoch werde die Agro-Chemie in der breiten Öffentlichkeit heute mehr als Risiko denn als Segen betrachtet. Da ein wachsender Teil der Ackerböden dem subventionierten Anbau von Energiepflanzen wie Mais oder Raps gewidmet wird, hat die Nahrungsmittelerzeugung Mühe, mit dem Fortschreiten des Wachstums der Weltbevölkerung Schritt zu halten. Nicht von ungefähr steht das Thema „Food Security“ auf der Agenda der G20-Gipfeltreffen.
Mit dem Appell, weniger Fleisch zu essen, sei dem Problem der Nahrungsmittelverknappung nicht beizukommen, betont das Positionspapier. Gerade in aufstrebenden „Schwellenländern“ steige mit zunehmendem Wohlstand automatisch der Fleischkonsum. Einen Ausweg biete nur die ökologisch verantwortungsvolle Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität durch konzentrierte Forschungsanstrengungen. Im Mittelpunkt stehe dabei die Entwicklung und Optimierung ertragreicherer und widerstandsfähigerer Kulturpflanzen-Sorten sowie die Suche nach intelligenten und umweltverträglichen Methoden des Pflanzenschutzes.
Ohne den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln fielen nach aktuellen Studien etwa die Hälfte der Weizenernte und bis zu drei Viertel der Kartoffelernte Schädlingen zum Opfer. Nach einer Berechnung der britischen Cranfield University beliefen sich in der gesamten Europäischen Union die zusätzlichen Ausgaben für Lebensmittel ohne den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln auf knapp 900 Milliarden Euro im Jahr. Rechnet man die für Großbritannien ermittelten Mehrkosten auf Deutschland um, stiegen die Verbraucherkosten hierzulande um rund 60 Milliarden Euro jährlich – mit absehbaren negativen Einflüssen auf die Märkte anderer Konsumgüter, die sich die Verbraucher dann nicht mehr leisten könnten.
Auch unter dem Blickwinkel der Energie-Effizienz beziehungsweise des Klimaschutzes sei der Nutzen des chemischen Pflanzenschutzes über jeden Zweifel erhaben, betont das Papier. Nach Forschungen an der Universität Kiel emittieren intensiv mit Hilfe der Agro-Chemie bewirtschaftete Felder bezogen auf den Ernteertrag deutlich weniger „Treibhausgase“ als ökologisch bewirtschaftete. „Frühere Berechnungen zur Weizenproduktion haben ergeben, dass bei einer Stickstoffdüngung in optimaler Höhe nach guter fachlicher Praxis weniger Treibhausgase je Tonne Weizen emittiert werden als bei reduzierter Stickstoffdüngung“, betont Prof. Dr. Hermann Kuhlmann (YARA, Dülmen), der Vorsitzende des Fachbereichs Pflanzenernährung im IVA. Die Extensivierung führe zwar zu weniger Emissionen je Hektar Fläche, aber auch zu deutlich niedrigeren Erträgen. Um die gleiche Weizenmenge zu erzeugen, müssten bei reduzierter Düngung neue Landflächen unter den Pflug genommen werden, was zu einer zusätzlichen Freisetzung von Kohlendioxid führt. Forscher der kalifornischen Stanford University berechneten im vergangenen Jahr, dass ohne Intensivierung zusätzlich 1,76 Milliarden Hektar Ackerfläche in Kultur genommen werden müssten, um die derzeitige Weltbevölkerung ausreichend mit Nahrung zu versorgen. „Eine Extensivierung des Ackerbaus würde folglich zu einem Ansteigen der Treibhausgasemissionen aus der Landwirtschaft führen und letztlich dem Klima stark schaden“, erklärt Kuhlmann.
Nach einem Einbruch während der internationalen Finanzkrise haben sich die Märkte für Pflanzenschutz- und Düngemittel im Jahre 2010 wieder stabilisiert. Wegen der höheren Preise für Agrarprodukte lohnt es sich für die Landwirte, stärker in Düngung und Pflanzenschutz zu investieren. Der Einsatz von Mineraldüngern nimmt weltweit wieder zu. Auch in Deutschland und in der Schweiz steigt der Absatz. Nach den bis einschließlich März vorliegenden Statistiken liegt der Inlandsabsatz an Stickstoffdüngern um rund sieben Prozent über dem Durchschnitt der zurückliegenden fünf Jahre. Hermann Kuhlmann ging Anfang Mai 2011 auf der Jahrespressekonferenz des IVA davon aus, dass die starke Inlandsnachfrage bis zum Ende der Saison im Juni anhalten wird. Auch beim Kaliabsatz erwartet der Verband für die laufende Saison einen deutlichen Verbrauchszuwachs. Etwas verhaltener beurteilt er die Entwicklung des Phosphatabsatzes.
„Hauptursache für die wachsende Nachfrage nach Mineraldüngern sind die seit Mitte vergangenen Jahres stark gestiegenen landwirtschaftlichen Erzeugerpreise“, sagte Kuhlmann. Trotz der höheren Düngemittelpreise erzielen die Landwirte auch nach Abzug der Düngerkosten höhere Erlöse als noch vor einem Jahr. Die Düngerpreise sind daher in Relation zu den landwirtschaftlichen Erzeugerpreisen nach wie vor günstig. Das derzeitige Preisniveau wirkt sich nicht verbrauchsdämpfend aus. Entsprechend der Absatz- und Preisentwicklung haben sich auch die Umsätze der IVA-Mitgliedsunternehmen des Fachbereichs Pflanzenernährung positiv entwickelt und sich im Vergleich zum Vorjahr um 35 Prozent erhöht. Insbesondere der Inlandsumsatz profitierte von der gestiegenen Nachfrage und legte um über 90 Prozent zu. Der Exportumsatz stieg im Vergleich zum Vorjahr um 9 Prozent.
Im Pflanzenschutz-Segment blieb der Nettoumsatz in Deutschland trotz schwieriger Witterungsbedingungen mit 1,255 Milliarden Euro (2009: 1,262 Mrd. Euro) nahezu unverändert; im Düngejahr 2009/2010 (Juli – Juni) stieg der Nährstoffabsatz zum Teil deutlich an. Bei Stickstoff betrug der Zuwachs 1,2 Prozent (1,57 Mio. Tonnen), während der Phosphatabsatz um 34,9 Prozent auf 235.000 Tonnen und der Kaliabsatz nach zuvor dramatischen Einbrüchen um 102,5 Prozent auf 363.000 Tonnen wesentlich stärker zunahmen. Auch im laufenden Düngejahr 2010/11 werden ein weiter steigende Absätze erwartet.
IVA-Präsident Dr. Theo Jachmann (Syngenta, Maintal) sieht die Agro-Chemie in einer paradoxen Situation: „Auf der einen Seite zeigen die Preissprünge für Agrarrohstoffe in den zurückliegenden Monaten, dass die Produktion von Nahrungsmitteln mit dem wieder stark steigenden Bedarf kaum noch Schritt hält. Das Resultat sind höhere Preise, die vor allem die ärmsten Regionen der Welt treffen. Auf der anderen Seite scheint das die europäische Politik wenig zu bekümmern. Die Produktivität unserer Landwirtschaft wird im internationalen Vergleich durch immer mehr Bürokratie behindert, sodass wir inzwischen zum Nettoimporteur von Agrarrohstoffen geworden sind. Die jüngsten Vorschläge der Europäischen Kommission zur gemeinsamen Agrarpolitik lassen vermuten, dass auch weiterhin nicht die landwirtschaftliche Produktivität, sondern die Bürokratie hinzugewinnen wird.“
Trotz ungünstiger Witterungsbedingungen mit kurzen Vegetationsperioden und dementsprechend knappen Anwendungszeiträumen schrumpfte der deutsche Pflanzenschutzmarkt 2010 im Jahresvergleich nur geringfügig um 0,6 Prozent, die Exporterlöse fielen um 4,7 Prozent auf 2,835 Milliarden Euro (2009: 2,975 Mrd. Euro). Der Gesamtumsatz der IVA-Mitgliedsunternehmen belief sich auf 4,09 Milliarden Euro, was einem Rückgang von 3,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht (2009: 4,237 Mrd. Euro). Im Jahr 2010 sind in Deutschland 97.636 Tonnen Pflanzenschutz-Wirkstoffe hergestellt worden und damit 2,3 Prozent mehr als im Vorjahr (2009: 95.433 Tonnen). Der Wirkstoffexport ist um 4,8 Prozent auf 105.678 Tonnen angestiegen (2009: 100.843 Tonnen).
Auf dem deutschen Markt erzielten die IVA-Mitgliedsunternehmen mit Herbiziden einen Umsatz von 540 Millionen Euro (+0,4 Prozent), mit Fungiziden einen Umsatz von 506 Millionen Euro (-0,6 Prozent) und mit Insektiziden 138 Millionen Euro (-0,7 Prozent). Der Umsatz mit sonstigen Pflanzenschutzmitteln (etwa Schneckenmittel oder Wachstumsregler) ging um 4,1 Prozent auf 71 Millionen Euro zurück.
Für das laufende Jahr sieht Jachmann Anzeichen für gute Wachstumschancen im Pflanzenschutzgeschäft. „Mit den stark anziehenden Preisen für Agrarrohstoffe haben sich die Perspektiven für die Landwirte und damit für das gesamte Agribusiness merklich verbessert. Noch sind wir früh in der Saison, aber die bisherigen Marktsignale geben Anlass zu Optimismus“, sagte Jachmann Anfang Mai in Frankfurt.
Kritisch sieht Jachmann hingegen, dass die geplante Novelle des deutschen Pflanzenschutzgesetzes, mit der zentrale Teile des EU-Pflanzenschutzpakets umgesetzt werden sollen, sich weiter hinzieht. Zwar ist die EU-Verordnung 1107/2009 zur Zulassung von Pflanzenschutzmitteln ab dem 14. Juni 2011 in allen Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht, die Organisation des Zulassungsverfahrens jedoch ist Sache des jeweiligen nationalen Gesetzgebers. Die EU-Rahmenrichtlinie zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln, die zweite Säule des EU-Pflanzenschutzpakets, muss dagegen in nationales Recht umgesetzt werden.
In der Öffentlichkeit wurden zuletzt die Zuständigkeiten der an der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln beteiligten Behörden kontrovers diskutiert. Dazu stellte Jachmann klar: „Es ist allein an der Politik zu entscheiden, wer an welcher Stelle und mit welcher Kompetenz am Zulassungsverfahren mitwirkt. Wichtig für die deutsche Pflanzenschutz-Industrie ist, dass wir zu einem zügigen und effektiven Verfahren gelangen. Dieses muss einerseits dem hohen Schutzniveau für Verbraucher und Umwelt Rechnung tragen, andererseits aber auch dafür sorgen, dass unsere Landwirte rasch die Produkte erhalten, die sie benötigen, um ihre Ernten nachhaltig zu schützen.“
Edgar L. Gärtner
(zuerst veröffentlicht in: ChemiePlus Nr. 6/2011, az-Medien, CH-Aarau)