Nach einem etwas holprigen Start konnte die erste Etappe der Umsetzung der EU-Chemikalienverordnung vom Dezember 2006 schließlich doch alles in allem erfolgreich bewältigt werden. Vor der anstehenden zweiten Welle der Stoffregistrierung ist eine Überprüfung der Umsetzung der Verordnung vorgesehen.
Nach der Meisterung der Registrierungsfrist für Stoffe mit einem Produktions- bzw. Importvolumen von über 1.000 Jahrestonnen bereiten sich die Chemiewirtschaft und ihre Kunden auf die Registrierung der darunter liegenden Mengenklasse von 100 bis 1.000 Jahrestonnen vor. Diese muss bis zum 31. Mai 2013 abgeschlossen sein. Im Unterschied zur ersten Registrierungsphase, die vorwiegend Großunternehmen und nur zu 14 Prozent kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) betraf, sind nun auch zahlreiche KMU stark gefordert. Immerhin können diese dabei aus Fehlern und Unzulänglichkeiten lernen, die in der ersten Etappe der REACh-Umsetzung aufgetreten sind.
Spätestens bis zum 1. Juni 2012 muss die EU-Kommission ihren ersten Fünf-Jahres-Bericht (REACH-Review) über die Umsetzung des bislang umfangreichsten Regelungswerkes der EU vorlegen. Das wäre eine Gelegenheit, bislang sichtbar gewordene Probleme durch eine umfassende Novellierung der REACh-Verordnung anzugehen. Doch sowohl die Kommission und die Europäische Chemikalienagentur ECHA als auch die Chemieverbände möchten das Fass einer durchgängigen Revision des Regelwerks nicht aufmachen, solange die Auswirkungen der ersten Stoffregistrierungswelle noch nicht bis an die Enden aller Lieferketten zwischen Stoffproduzenten und –anwendern vorgedrungen sind. Beide Seiten versprechen sich viel von einer besseren Berücksichtigung bisheriger Erfahrungen bei der anstehenden zweiten Registrierungswelle.
Es hat sich gezeigt, dass der Abstimmungsaufwand zwischen verschiedenen Unternehmen in den SIEF (Safety Information Exchange Fora) bei der vom Gesetzgeber gewollten gemeinsamen Registrierung von Stoffen stark unterschätzt wurde. Deshalb ist bei den Vorbereitung zur zweiten Registrierungswelle schon jetzt Eile angesagt. Der Europäische Chemie-Dachverband CEFIC und seine nationalen Mitgliedsverbände haben Checklisten, Mustervorlagen, und andere Hilfsangebote erstellt, um ihren Mitgliedsunternehmen die Arbeit zu erleichtern. Dennoch bleibt die REACh-Umsetzung für viele KMU eine teure Übung, weil sie im Unterschied zu den meisten Großunternehmen viele externe Beratungsleistungen einkaufen müssen.
Noch stärker benachteiligt als die KMU der chemischen Industrie sind aber in manchen Fällen Importeure und Chemikalienanwender aus anderen Branchen. So bereitet zum Beispiel die nach harten Kontroversen beschlossene Aufnahme von Metallen in die lange Liste der REACh unterworfenen Stoffe und Gemische große Probleme. In der Praxis seien die hohen Kosten der Stoffregistrierung beim Import strategisch wichtiger Metalle zu einer Zollschranke besonderer Art geworden, wurde auf einem vom Brüsseler Informationsdienst „EurActiv“ veranstalteten Meinungsaustausch beklagt. So musste etwa das KMU Lipmann Walton & Co Ltd für den Import von 1.000 Tonnen Titan einen „Letter of Access“ erwerben, der 40.000 Euro kostete. Hätte die Firma nur 100 Tonnen Titan eingeführt, wäre aber der gleiche Betrag fällig gewesen! „Wenn das bei den anderen Elementen, die ich verkaufe, so weitergeht, bin ich geliefert“, seufzte Firmenchef Anthony Lipmann.
Auf einer weiteren Veranstaltung von „EurActiv“ zeigte sich Jacqueline Henshaw von der Aerospace Defence & Security Trade Association besorgt über die Auslistung wichtiger Hilfsstoffe wegen zu hoher Registrierungskosten. Bei zwei für die Flugzeugindustrie sicherheitsrelevanten Stoffen sei der Nachschub bereits ausgeblieben. Cristian Samoilovich von Aerospace and Defence Industries (ADS) beklagte, dass REACh offenbar von Politikern konzipiert wurde, denen die Welt der Industrie fremd sei. Man habe so getan, als seien die Probleme der Chemikaliensicherheit und des Verbraucherschutzes ausgehend von den Stoffherstellern oder Importeuren lösbar. Man hätte jedoch besser von den Anwendern ausgehen sollen. Dann wäre auch die Gefahr erkannt worden, dass Unternehmen, deren Geschäft von Nischenchemikalien abhängt, die Geschäftsgrundlage entzogen wird, wenn sich die Registrierung dieser Stoffe als zu teuer erweist. Insgesamt seien die Bürokratiekosten, die den Stoffanwendern durch REACh aufgebürdet werden, viel zu hoch. Es wäre besser, das Geld in die Erforschung gesunder und umweltfreundlicher Alternativen zu stecken, meint Samoilovich.
Auch Umweltverbände melden Novellierungsbedarf an. So hält die europäische Dachorganisation ChemSec, die vier Umweltverbände vertritt, die Zahl der bislang von der ECHA auf die Liste extrem Besorgnis erregender Substanzen (SVHC) nach REACh-Artikel 57 auf die „Kandidatenliste“ (REACh-Anhang XV) gesetzten Stoffe für viel zu niedrig. Statt bis dato 53 sollte diese Liste nach Ansicht von ChemSec mindestens 378 Substanzen umfassen. Kontroversen zwischen der chemischen Industrie und Umweltorganisationen gibt es vor allem über die Kunststoff-Komponente Bisphenol A und Kunststoffweichmacher (Phthalate) sowie generell über Substanzen, die im Verdacht stehen, endokrine, das heißt hormonelle Effekte hervorzurufen.
Außerdem verlangen ChemSec und die Organisation ClientEarth unter Berufung auf die Aarhus-Konvention von 1998 Zugang zu den Firmennamen der Hersteller und Anwender von Stoffen der „Kandidatenliste“. Diese werden von der ECHA und von der chemischen Industrie als Geschäftsgeheimnisse der registrierenden Firmen eingestuft, weil Wettbewerber daraus Rückschlüsse auf die Lieferketten dieser Firmen ziehen könnten. CEFIC hat im August 2011 den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg angerufen, um diese Frage klären zu lassen.
Die chemische Industrie erwartet darüber hinaus, dass sich die zuständigen EU-Gremien noch einmal die Schnittstellen zwischen REACh und anderen Regelwerken wie der RoHS-, der Pestizid- und der Biozid-Richtlinie vornehmen. Hier gibt es noch Inkonsistenzen. Auf einem anderen Blatt stehen ganz offenkundige Widersprüche zwischen dem Verbot der Anwendung giftiger Schwermetalle wie Quecksilber, Blei und Cadmium durch die RoHS-Richtlinie und deren Zulassung in Energiesparlampen und Photovoltaik-Panelen.
Noch längst nicht zufriedenstellend gelöst sind auch die Probleme der genauen Identifizierung und Zuordnung von Stoffen. Damit beschäftigten sich Veranstaltungen der Akademie Fresenius in Köln (Juni 2010) und Mainz (Juli 2011). REACh hat keine Methoden der Stoff-Identifizierung festgelegt. Von der einfachen Titration bis zu komplexen HPLC-MS-MS- und XRD-Analysen ist alles erlaubt. Insbesondere KMU dürfte es schwer fallen, Inhaltsstoffe von Gemischen im Prozentbereich zu identifizieren, zumal wenn die Proben verunreinigt sind. Für viele nur in kleinen Mengen angewandte Hilfsstoffe fehlen Referenzspektren und Reinstoffproben für die Eichung von Analyseverfahren. Oft müssen die beauftragten Labore erst geeignete Analysemethoden entwickeln. Deshalb kann die Ermittlung der exakten Stoff-ID für KMU zur teuren Angelegenheit werden (sofern sie nicht versuchen, auf die billige Tour davon zu kommen).
Es gäbe also genug Anlass für eine Generalrevision von REACh. EU-Umwelt-Kommissar Janez Potočnik hat jedoch kürzlich den Hoffnungen auf eine Novellierung von REACh einen Dämpfer verpasst. Das Regelwerk beginne gerade zu funktionieren und es müssten erst einmal mehr Erfahrungen gesammelt werden, erklärte er. ECHA-Generaldirektor Geert Dancet ermahnte die betroffenen Firmen zu mehr Ehrlichkeit und Sorgfalt. So habe sich ein Viertel der im ersten Anlauf bei der ECHA eingegangenen rund 25.000 Stoffanmeldungen auf „Zwischenprodukte“ bezogen, für die geringere Daten-Anforderungen gelten. „Ich bezweifle, dass es sich dabei tatsächlich überwiegend um Zwischenprodukte entsprechend der heute gültigen Definition handelt“, erklärte Dancet. Etliche Firmen hätten sich auch fälschlicherweise zur KMU erklärt, um von niedrigeren Gebühren und Verfahrensvereinfachungen zu profitieren. Außerdem fahndet die ECHA noch immer nach dem Verbleib von 1.500 Stoffen, deren Registrierung in der ersten Phase erwartet worden war.
Dancet monierte auch die Tatsache, dass immerhin sechs Prozent der bisherigen Stoffanmeldungen individuell erfolgten, obwohl die ECHA alles daran setzt, die Firmen zu gemeinschaftlichen Registrierungen zu bewegen. Erwin Annys von CEFIC führt das auf fortwährende Streitigkeiten um den Datenaustausch und die Kostenaufteilung zwischen konkurrierenden Firmen in den SIEF zurück. Diese Misshelligkeiten werden in der zweiten Registrierungsphase höchstwahrscheinlich noch zunehmen, weil Fragen des Datenschutzes und der Registrierungskosten bei mittelständischen Firmen oft an der Substanz rühren.
Edgar L. Gärtner
(zuerst veröffentlicht in: ChemiePlus, AZ-Medien, CH-Aarau, Heft 11/2011)