Die von Angela Merkel ausgerufene und von allen Parteien im Deutschen Bundestag begrüßte „Energiewende“ führt wohl noch schneller ins Stromnetzchaos als befürchtet. Nach dem vorzeitigen Aus für die Hälfte der deutschen Kernkraftwerke sollten nach den Vorstellungen der Grünen aller Parteien vor allem Gaskraftwerke einspringen, wenn Windräder und Solarkraftwerke wegen Windflaute und/oder Dunkelheit keinen Strom liefern können. Denn die Gasturbinen können besonders schnell hoch und runter gefahren werden. Doch derzeit ist in Deutschland nur ein einziges Gaskraftwerk im Bau, und zwar in Hürth bei Köln. Dieses soll erst 2013 seinen Betrieb aufnehmen. Schlimmer noch: Gerade hat dessen Bauherr, der staatliche norwegische Stromkonzern Statkraft, angekündigt, dass er zwei ältere Gaskraftwerke in Landesbergen und Emden in Niedersachsen, die er vor zwei Jahren dem deutschen Stromriesen E.on abgekauft hat, gerne stilllegen möchte. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Gaskraftwerke sind nur rentabel in der Mittellast, das heißt wenn sie etwa 1.500 bis 2.000 Stunden im Jahr Strom liefern. Wegen der Überproduktion von Windstrom in Norddeutschland und der Vorrang-Regelung für Wind- und Solarstrom im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) liefen die beiden Anlagen von Statkraft aber zuletzt nur noch einige Hundert Stunden im Jahr. Sie spielten also lediglich die Rolle von Lückenbüßern. Aus dem gleichen Grund halten sich die privaten Stromkonzerne auch andernorts mit Investitionen in Gaskraftwerke zurück.
Die Bundesnetzagentur zeigte sich überrascht von der Ankündigung des norwegischen Stromkonzerns, denn sie hatte die beiden Anlagen, die zusammen immerhin etwa 1.000 Megawatt elektrische Leistung liefern können, in ihrem Konzept zur Überbrückung des Atomausstiegs fest eingeplant. Der Ausfall von zwei Gaskraftwerken im Norden sei aber zu verkraften, erklärte der staatliche niederländische Netzbetreiber TenneT, der das E.on-Netz übernommen hat. Viel riskanter wäre der Ausfall von Kraftwerken im Süden der Republik, wo die Stromversorgung wegen der Stilllegung der meisten Kernkraftwerke schon jetzt „auf Kante genäht“ ist. Auch Kernkraftwerke lassen sich übrigens im oberen Leistungsbereich sehr rasch auf- und abregeln. Sie ließen sich also ähnlich gut wie Gaskraftwerke mit Windkraftanlagen kombinieren.
Statkraft-Geschäftsführer Jürgen Tzschoppe erklärte gegenüber der „Financial Times Deutschland“, angesichts hoher Gaskosten und des Überangebots von Windstrom in Nord- und Ostdeutschland sei es derzeit kaum noch möglich, Gaskraftwerke in Deutschland wirtschaftlich zu betreiben. Um Investitionen in neue Gaskraftwerke attraktiv zu machen, müsse der Erzeugerpreis für Strom um 50 Prozent, das heißt bis auf etwa 90 Euro je Megawattstunde steigen. Zurzeit liegt der Erzeugerpreis auf dem Terminmarkt für das erste Quartal 2012 bei etwa 51 Euro. Da kann noch einige Zeit ins Land gehen, bis sich der Bau von Gaskraftwerken wieder lohnt. Die Bundesnetzagentur setzt deshalb bis auf weiteres auf die „Entmottung“ alter Kohlekraftwerke in Süddeutschland. Doch diese können bei einem Ausfall der Windkraft nicht schnell genug hochgefahren werden.
Die Tageszeitung „Die Welt“ sieht Deutschland deshalb schon an der Schwelle zum Blackout. An sehr kalten, lichtarmen und windstillen Wintertagen sei die Situation für die Stromversorgung besonders kritisch. „Um einen bundesdeutschen Blackout zu vermeiden, kann es notwendig sein, einzelne Regionen in Süddeutschland – etwa in der Größe des Großraums Stuttgart – dunkel zu schalten“, warnte RWE-Chef Jürgen Großmann bereits im letzten Sommer. Renate Hichert, die Sprecherin der Bundesnetzagentur bestätigte: „In den nächsten zwei Wintern könnte es eng werden.“ Nach der Abschaltung von acht Kernkraftwerken, fehlt es vor allem im Süden der Republik an so genannter Blindleistung für die Stabilisierung des Netzes. Wind- und Solarparks können diese Blindleistung nicht liefern. RWE baut deshalb zurzeit das stillgelegte Kernkraftwerk Biblis in Südhessen zur Blindleistungs-Kapazität um. Der dafür nötige Strom kommt aus einem Kohlekraftwerk
Der russische Staatsmonopolist Gazprom sieht in der verfahrenen Situation eine Chance, in großem Stil direkt in den deutschen Strommarkt einzusteigen. Kürzlich kündigte Gazprom-Vorstandsvorsitzender Alexeij Miller an, in Bayern drei bis fünf Gaskraftwerke bauen und nach Möglichkeit auch selbst betreiben zu wollen. Sie sollen direkt mit teurem Gas aus Russland versorgt werden. Währenddessen liegen die Vorhaben des US-Konzerns ExxonMobil, die nicht unbedeutenden Vorkommen von Schiefergas in Deutschland zu erschließen, wegen des Einspruchs grüner Bedenkenträger gegen das „Fracking“ weiterhin auf Eis. Auch die Lobby der Stadtwerke im Verband Kommunaler Unternehmen (VKU) sieht in den kommenden Jahren die Netzstabilität in Gefahr. VKU-Präsident Hans-Joachim Reck fordert deshalb, den Bau neuer Gaskraftwerke staatlich zu subventionieren. Einmal von der Politik mithilfe des EEG in Gang gesetzt, zieht die Subventionsspirale also immer größere Kreise. Jeder planwirtschaftliche Eingriff in den Energiemarkt zieht weitere planwirtschaftliche Korrekturen nach sich. Am Ende werden das alles die privaten Stromkunden bezahlen müssen.