Nur in Deutschland, der Schweiz und Italien ist nach dem Tsunami vom 11. März 2011 und dem nachfolgenden Unglück im japanischen Kernkraftwerk Fukushima Daiichi das „Ende des Atomzeitalters“ ausgerufen worden. Andernorts geht der Bau neuer Kernreaktoren weiter. Doch überall ist die Diskussion über bessere Reaktorkonzepte in Gang gekommen.
Bei seinem Auftritt im Berliner Adlon-Hotel im April 2011 machte sich der US-Milliardär Bill Gates lustig über die Atom-Angst der Deutschen. Dass die Deutschen ihre Atomkraftwerke abschalteten, halte er „wahrlich für ein Zeichen von Wohlstand“, meinte der einst reichste Mann der Welt ironisch. Der Grund: Gates leitet neben der größten privaten Stiftung der Welt unter anderem auch die kleine Start-up-Firma TerraPower. Das kleine Unternehmen arbeitet daran, Kernreaktoren kleiner, billiger und sicherer zu machen.
Gates träumt von einem inhärent sicheren Mini-Kernreaktor, der samt eingeschweißtem Brennstoff in der Erde verbuddelt oder auf Schiffen montiert werden könnte, wo er wartungsfrei 50 bis 100 Jahre lang arbeiten könnte. Die Ingenieure von TerraPower arbeiten bereits am Modell eines so genannten Wanderwellen-Reaktors, in Deutschland bekannt als „Brüter“. Allerdings bislang nur am Bildschirm.
Dieser Reaktor würde für die „Zündung“ nur eine kleine Menge spaltbares Uran 235 benötigen. Die bei der Spaltung von Uran 235 freiwerdenden Neutronen würden von einem Mantel aus abgereichertem Uran 238 aufgefangen, das dabei langsam in Plutonium 239 umgewandelt würde. Dieser Mantel aus abgereichertem Uran, das in herkömmlichen Kernkraftwerken als Abfall anfällt, würde etwa 90 Prozent der gesamten Brennstoffmenge ausmachen. Das darin entstehende Plutonium würde durch die Aufnahme weiterer Neutronen über lange Zeit Energie freisetzen können. Diese Energie würde durch flüssiges Natrium oder, besser noch, flüssiges Blei vom Reaktorkern abtransportiert und könnte dann über einen Wärmetauscher auf Turbinen geleitet werden. Gates sieht große Chancen, für sein Projekt die Unterstützung der US-Regierung zu bekommen. Denn Präsident Barack Obama hat in seinem Ansatz für den Bundeshaushalt für 2012 über 850 Millionen Dollar für die Kernforschung einschließlich der Entwicklung von Kleinreaktoren in Aussicht gestellt.
Bill Gates und seine Firma stehen mit der Idee, sichere Mini-Atomkraftwerke zu entwickeln, keineswegs allein. Schon vor knapp zwei Jahren stellte Prof. Craig F. Smith, der Inhaber des Lawrence Livermore National Laboratory Lehrstuhls in Monterey/Kalifornien den Small Secure Transportable Autonomous Reactor (SSTAR) vor, bei dem flüssiges Blei als Kühlmittel dienen soll. Blei hat gegenüber Natrium den Vorteil, dass es nicht brennt und obendrein Radioaktivität schluckt. Ein Wärmetauscher überträgt die Energie vom flüssigen Blei auf Kohlenstoffdioxid (CO2), das eine Gasturbine antreibt. Eine Kernschmelze ist bei diesem Reaktortyp ausgeschlossen. Smith weist darauf hin, dass schon 15 Länder bei der Internationalen Atomenergie-Behörde IAEA in Wien insgesamt 50 ähnliche Reaktorkonzepte angemeldet haben. Von den in den USA tätigen Nuklear-Firmen verfolgt u. a. Westinghouse, der im Jahre 2006 vom japanischen Mischkonzern Toshiba übernommen wurde, das SSTAR-Konzept. Schon relativ weit soll die Entwicklung eines transportablen Klein-Reaktors von 10 Megawatt Leistung gediehen sein. Toshiba arbeitet dabei eng mit der russischen Staatsholding Rosatom zusammen.
Die Russen haben sich auf den Bau schwimmender „Brüter“ mittlerer Kapazität spezialisiert. Am 30. Juni 2010 fand in der baltischen Werft in St. Petersburg der Stapellauf des ersten schwimmfähigen Kernkraftwerks Akademik Lomonossow statt. Die Barke mit zwei modularen Kompakt-Reaktoren soll ab 2012 die schlecht zugängliche Siedlung Viljuchinsk auf der Halbinsel Kamtschatka von der See aus mit Strom versorgen. Rosatom möchte offenbar den Bau modularer schwimmfähiger Kernreaktoren zu einem originellen Geschäftsmodell ausbauen. Die Staatsholding sieht große Exportchancen für schwimmende Kernkraftwerke in Asien, Lateinamerika und Nordafrika, denn die Metropolen der Schwellenländer befinden sich meistens an der Küste. Neben der Stromversorgung könnten schwimmende Kernkraftwerke auch gut als Energiequelle für die Meerwasser-Entsalzung dienen.
Craig F. Smith sieht im Bau modularer Mini-Kernkraftwerke erst den richtigen Beginn des Atomzeitalters. Denn im Unterschied zu Großreaktoren können diese wie Henry Fords berühmtes Model T preisgünstig in Groß-Serie hergestellt und überall hin transportiert werden, sobald sich bestimmte Typen in der Praxis bewährt haben. Die Kleinreaktoren könnten so gebaut werden, dass sie mit passiver Kühlung auskommen und ihr kompakter Kern für die Nutzer unzugänglich bleibt. Den Kern könnte man in eine Kassette einschweißen, die nur en bloc ausgetauscht werden kann. Während bis heute nur 30 der 200 Länder der Erde über Kernreaktoren verfügen, werde die Atomenergie in Form von Kleinreaktoren für alle zugänglich und erschwinglich werden, meint Smith.
Wenn heute trotz der Katastrophe von Fukushima von einer möglichen „nuklearen Renaissance“ die Rede ist, gilt das wohl in erster Linie für Mini-KKW. Bei Groß-KKW auf der Basis sicherheitstechnisch aufgerüsteter Druckwasser-Reaktoren (EPR) zeigen sich demgegenüber immer deutlicher Kosten-Hürden. Die Baukosten des ersten französischen EPR bei Flamanville/Normandie werden auf sechs Milliarden Euro, seine Stromerzeugungskosten auf fast 50 Euro je Megawattstunde geschätzt. Weitere EPR-Projekte, etwa in Polen, haben sich denn auch hauptsächlich wegen ungelöster Finanzierungsfragen verzögert. Die Anbieter mobiler und preiswerter Mini-KKW werden sich also wohl nicht über mangelndes Kundeninteresse zu beklagen haben. In Deutschland müssen aber wohl erst die Lichter ausgegangen sein, bevor Bill Gates’ Vision hier auf fruchtbaren Boden fällt.