Ein psychologisches Experiement
von Edgar Gärtner
Man wird in Europa nicht so leicht jemanden finden, der sich offen gegen die Anerkennung der individuellen Freiheit ausspricht. Doch bei der Frage, was unter Freiheit zu verstehen sei, liegen die Auffassungen weit auseinander. Freiheit gilt einem offenbar wachsenden Teil der an die „Segnungen“ des modernen Wohlfahrtsstaates gewöhnten Konsumenten als die Möglichkeit, zu kaufen, wonach sie Lust haben, sofern es der ihnen zugestandene Kreditrahmen zulässt. Manche sehen darin auch die Möglichkeit, ohne Hemmungen dem Kommando ihrer Hormone folgen zu können. Vielen gilt die Vorstellung eines freien Willens, das heißt eines geistigen Ichs, das Triebimpulse bewusst kontrollieren kann, als ein verstaubtes Relikt aus der Asservatenkammer der mittelalterlichen Scholastik, worauf sich nur noch christliche Fundamentalisten berufen. Etliche Hirnforscher wollen mit Hilfe moderner Techniken, wie zum Beispiel der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) oder der Messung elektrischer Potenzialschwankungen im Gehirn, herausgefunden haben, dass es keinen freien Willen geben kann. Das individuelle Bewusstsein sei durch elektro-chemische Prozesse determiniert, die schon vor der bewussten Entscheidung für eine Aktion nachweisbar seien. Nicht ein bewusstes Ich entscheide, sondern ein vorab Handlungsbefehle gebendes Hirn. Letztlich sei der Mensch für seine Handlungen also nicht wirklich verantwortlich.
Es lässt sich aber immerhin experimentell klären, dass eine bewusst freiwillig vollzogene Handlung im Gehirn ganz anders gesteuert wird als eine durch soziale Normen und/oder Strafandrohung erzwungene Aktion. Ein solches Experiment führten die Psychologen Christian Ruff, Ernst Fahr und Giuseppe Ugazio im vergangenen Jahr von der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und der Universität Wien durch. Die Ergebnisse des Experiments wurden im renommierten US-Wissenschaftsmagazin Science publiziert. Die Psychologen stimulierten bei Versuchspersonen eine Hirnregion, den rechten lateralen präfrontalen Kortex (rLPFC), von dem man weiß, dass er für die Impulskontrolle und die Einhaltung sozialer Normen zuständig ist, transkraniell, das heißt nicht invasiv mit schwachen positiven oder negativen Strömen. Sie konnten zeigen, dass soziale Normen wie etwa Pünktlichkeit oder Fairness bei positiver Stimulierung des rLPFC besser eingehalten wurden als bei negativer Stimulierung. Die Wissenschaftler gaben den insgesamt 63 Probanden Geld, das sie mit einem anonymen Partner teilen sollten. Wurde der rLPFC positiv stimuliert, gaben die Probanden ihrem fiktiven Partner deutlich mehr Geld als bei einer negativen Stimulierung. Die Teilnehmer gaben zwischen 10 und 25 Prozent ihres Geldes freiwillig ab.
Das war allerdings nur der erste Teil des Experiments. In einer zweiten Runde wurde den Probanden als Strafe angedroht, einen beliebig großen Teil ihres Geldes wieder zurückgeben zu müssen, wenn sie es nicht fair geteilt hatten. Unter diesen Umständen waren die meisten Versuchspersonen bereit, sofort auf fast die Hälfte des Geldes zu verzichten. Wurde der rLPFC unter Strafandrohung elektrisch stimuliert, gaben sie sogar mehr Geld ab, als die Regel der Fairness forderte. Das könnte es nahelegen, Menschen durch schwache Stromstöße an ihrem Schädel zum Wohlverhalten bringen zu wollen. Jeder Diktator könnte damit seinen Untertanen den Widerstandswillen austreiben.
Doch zum Glück liegen die Dinge nicht so einfach. Denn das beschriebene Experiment funktionierte nicht mehr, wenn die Probanden erfuhren, dass sie nicht gegen andere Menschen, sondern gegen einen entsprechend programmierten Computer spielten. Das zeigt, dass menschliche Handlungen keine mechanischen Antworten auf elektrische oder hormonelle Reize sind. Die Menschen haben eben doch ihren freien Willen, der den jeweiligen sozialen Kontext in Betracht zieht. So lässt sich auch erklären, dass Strafandrohungen im realen Leben durchaus nicht immer zum erwünschten Ergebnis führen. Werden etwa Eltern, die ihre Kleinkinder zu spät vom Kindergarten abholen, Geldstrafen angedroht, kann es passieren, dass die Zahl der Unpünktlichen sogar zunimmt. Denn freiwillig das Rechte zu tun ist etwas anderes, als etwas tun, um eine Strafe zu vermeiden. Der rLPFC kann offenbar nicht beides gleichzeitig steuern.
(Zuerst veröffentlicht am 18. September 2014 auf KOPP online)