Die Öko-Religion – eine manichäische Häresie

Edgar L. Gärtner

St. Victor, Marseille

Die deutsche „Energiewende“ lässt sich nicht wirtschaftlich, sondern nur religiös begründen. Das zeigt sich schon an der zu ihrer Rechtfertigung eingesetzten „Ethik-Kommission“, in der Bischöfe die Hauptrolle spielten. Die vorgebrachten Argumente widersprechen allerdings dem Geist der Bibel.

Der in Deutschland und einigen Nachbarländern unter dem Namen „Energiewende“ eingeleitete Totalumbau eines bewährten, weil über Jahrzehnte gewachsenen Systems der Elektrizitätsversorgung, lässt sich weder wissenschaftlich noch technisch, sondern allenfalls pseudowissenschaftlich oder religiös begründen. In den von grünen Ideologen beherrschten Massenmedien zählt nur die Angst als Argument: Angst vor Radioaktivität und Angst vor einer Klimakatastrophe durch den Ausstoß von Kohlenstoffdioxid (CO2).

Gewaltigste Naturzerstörung seit dem Mittelalter
Wir erleben zurzeit in Deutschland die gewaltigste Naturzerstörung seit dem Mittelalter. Es wird schon in wenigen Jahren in Deutschland keinen Punkt mehr geben, an dem Sie sich nicht von riesigen Windrädern eingekreist fühlen. Man wird Deutschland nicht mehr wiedererkennen. Aber es geht dabei nicht nur um die Optik. Viel bedenklicher ist die Zahl toter Greifvögel und Fledermäuse, die den rasch drehenden Rotoren zum Opfer fallen. Bedenklich sind auch die gesundheitlichen Auswirkungen des von den Rotoren erzeugten Infraschalls. Und noch bedenklicher ist die Zufallsabhängigkeit des Windstroms. Gerade wurde eine Untersuchung veröffentlicht, die nachweist, dass selbst im windreichen Großbritannien die Windräder nur an 17 Stunden im ganzen Jahr 90 Prozent ihrer Nennleistung erreichen. Oft sinkt ihre Leistung bis auf Null. Dann müssen konventionelle Kraftwerke einspringen, die jedoch technisch nicht für ein schnelles Hoch- und Runterfahren ausgelegt sind.
Grundlage des Ausbaus der so genannten erneuerbaren Energien ist das am 1. Januar 2001 in Kraft getretene Gesetz zur Förderung Erneuerbarer Energien (EEG). Sein Ziel ist die Verminderung des CO2-Ausstoßes durch die massive Förderung kohlenstoffarmer Energien: Wind, Sonne und Biomasse. Die deutschen Stromkunden zahlen zurzeit über die Einspeisevergütung für diesen mehr oder weniger zufällig erzeugten Strom jährlich um die 23 Milliarden Euro. Bis zum Jahre 2022 werden sie, über 20 Jahre aufsummiert, weit über eine Billion Euro für Strom bezahlt haben, der an der Börse kaum etwas wert ist. Zusammen mit dem bislang noch kaum in Angriff genommenen Ausbau des Stromnetzes und der staatlich verordneten Wärmedämmung von Gebäuden wird die deutsche Energiewende bis zum Jahre 2050 schätzungsweise 9 Billionen Euro kosten. Windparks in Mittelgebirgslagen rentieren sich übrigens, trotz der Subventionen, nur relativ selten für ihre Betreiber, wohl aber für ihre Projektierer und Konstrukteure und erst recht für die Banken und Versicherungen, die das finanzieren, und nicht zuletzt für die Landwirte, die ihr Land verpachten. Es handelt sich hier also um Kapitalvernichtung in großem Maßstab. Das zeigt sich nicht zuletzt am negativen Ergebnis.
Im Jahre 2000 entstanden in Deutschland bei der Stromerzeugung 342 Mio. Tonnen CO2. Im Jahre 2013 hingegen 354 Mio. Tonnen! Der Hauptgrund für diesen Anstieg liegt darin, dass die phasenweise Überproduktion so genannter Erneuerbarer den Börsenpreis für Strom so weit hat sinken lassen, dass sich zurzeit außer den subventionierten Solar-, Wind- und Biomasse-Kraftwerken nur noch Braunkohlekraftwerke rechnen. Diese laufen deshalb rund um die Uhr, zumal sie auch als Reserve für wind- und sonnenlose Zeiten gebraucht werden. Sollte der CO2-Ausstoß in den kommenden Jahren wieder sinken, dann höchstwahrscheinlich wegen der auf uns zukommenden schweren Wirtschaftskrise. Nicht nur denkbar, sondern immer wahrscheinlicher wird auch ein großräumiger Blackout. Die Zahl der Noteingriffe in das Stromnetz hat sich in den Letzten Jahren vertausendfacht, von 3 bis 4 auf jährlich 3.500, d.h. etwa 10 am Tag. Irgendwann wird dabei etwas schief gehen und dann kostet jede Stunde Stromausfall in Deutschland 600 Mio. Euro! Aus diesem Grund habe ich die deutsche Klimapolitik in meinem letzten Buch als „Öko-Nihilismus“ bezeichnet – mit dem Untertitel „Selbstmord in Grün.“ Ich bezog mich dabei auf den leider viel zu früh gestorbenen französischen Literatur-Nobelpreisträger Albert Camus, der den Nihilismus in seinem 1950 erschienen Essay „Der Mensch in der Revolte“ folgendermaßen definierte: „Der Nihilist glaubt nicht an nichts, sondern nicht an das, was ist.

Es geht um Vernunft im Glauben
Mit der Feststellung, die deutsche Energiewende beruhe auf religiösem Wahn, rennt man inzwischen freilich offene Türen ein. Vor allem liberale Autorinnen und Autoren haben in den letzten Jahren in der Pose von Aufklärern den religiösen Charakter der Öko-Bewegung entlarvt. Meines Erachtens können wir aber bei dieser Denunzierung der „Öko-Religion“ nicht stehen bleiben. Denn dabei klingt an, dass sie Religion generell für etwas Irrationales halten. Glaube und Aberglaube werden dabei gleichgesetzt. Demgegenüber möchte ich hier aufzeigen, dass es nicht um die Frage Vernunft oder Religion geht, sondern um Vernunft in der Religion. Die ganze Kirchengeschichte ist bekanntlich die Geschichte des Kampfes gegen mehr oder weniger gefährliche Häresien, die alle einem Abfall von der Vernunft gleichkamen. Einen solchen Abfall von der Vernunft sehe ich auch in der derzeitigen Haltung der deutschen Bischöfe gegenüber der so genannten Klimapolitik und der Energiewende.
Erinnern möchte ich hier nur daran, dass der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz (DBK) Kardinal Reinhard Marx nicht nur der im März 2011 von Bundeskanzlerin Angela Merkel eingesetzten „Ethik-Kommission für eine sichere Energieversorgung“ angehörte, sondern im Mai 2011 in einem ganzseitigen Beitrag in der „Frankfurter Allgemeinen“ unter dem Titel „Energie – eine Frage der Gerechtigkeit“ ein eigenes Argumentarium entwickelt. Danach stehen die deutschen Bischöfe voll hinter der von Bundeskanzlerin Angela Merkel proklamierten „Wende hin zu regenerativen Energien“. „Der Ausstieg aus der Kernenergie sollte…auf jeden Fall unter der Prämisse einer gleichzeitigen Abkehr von den fossilen Energieträgern erfolgen“, betonte Kardinal Marx in der FAZ. Er bezog sich dabei auf einen weit in technische Details gehenden Text des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz unter dem Titel „Der Schöpfung verpflichtet“. Dort wird sogar für die inzwischen gescheiterte Wüstenstrom-Initiative „Desertec“ geworben.
Von protestantischer Seite war der badische Landesbischof Ulrich Fischer in der Kommission vertreten. Im Unterschied zu Kardinal Marx warnte Bischof Fischer immerhin vor unverhofften Nebenwirkungen eines überstürzten Atomausstiegs. Dieser sei scheinheilig, weil er durch vermehrte Atomstromimporte kompensiert werden könne. Beide Bischöfe legten aber großen Wert auf die Feststellung, dass es in Deutschland, was die Haltung zur Kernenergie angeht, keine Differenzen zwischen den beiden christlichen Konfessionen gibt. 80 bis 90 Prozent der Deutschen wollten die Energiewende.
„Der Schöpfung verpflichtet“ oder „Schöpfung bewahren!“ sind wiederkehrende Schlagworte, die der Forderung nach einem Ausstieg aus der Verwendung fossiler Energieträger wohl den Anschein einer biblischen Begründung verleihen sollen. In der Genesis heißt es aber nur: „Gott setzte den Menschen in den Garten Eden, dass er ihn bebaue und bewahre.“ Das Bebauen, umwandeln der Landschaft entsprechend menschlichen Bedürfnissen kommt also eindeutig vor dem Bewahren. Ginge es nur um Letzteres, müssten wir uns als Menschen eigentlich abschaffen. Es geht aber gar nicht um die ganze Schöpfung, sondern nur um einen kleinen eingezäunten Teil, den wir einigermaßen überblicken und kontrollieren können. Die Schöpfung in ihrer Gänze bewahren zu wollen, ist im Grunde ein blasphemisches Ansinnen, weil wir Menschen gar nicht wissen, was alles dazugehört. Mithilfe der im Papier der DBK favorisierten Techniken kann man jedenfalls nicht sieben Milliarden Menschen ernähren, kleiden und mit halbwegs komfortablen Wohnungen versorgen. (Übrigens: Auch Fledermäuse und Milane gehören zur Schöpfung.) Die Formel „Schöpfung bewahren!“ kann also den ethischen Diskurs nicht ersetzen. Ich persönlich setze dabei auf die disziplinierende Wirkung des Marktes. Das heißt, ich bin davon überzeugt, dass das freie Wechselspiel von Angebot und Nachfrage, rechtstaatliche Rahmenbedingungen vorausgesetzt, die Marktteilnehmer mittelfristig zu ethischem Verhalten zwingt. Verletzungen von Eigentumsrechten und Vertragsbrüche müssen freilich gerichtlich geahndet werden.
In den beiden christlichen Kirchen herrscht demgegenüber z. Z. tiefes Misstrauen gegenüber der Marktwirtschaft. Meines Erachtens steht hinter der Ablehnung, wenn nicht Verachtung des marktwirtschaftlichen Entdeckungsverfahrens eine Vergötzung des Staates und seiner Wissensanmaßung. Den Kirchen, die bei jeder Gelegenheit die Vergötzung des Mammons denunzieren, stünde es wohl besser an, auch gegenüber politischen Machenschaften wie der deutschen „Energiewende“ Distanz zu wahren. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das von Papst Benedikt XVI. in den Verkehr gebrachte Stichwort „Entweltlichung.“

Gottvertrauen statt Angst
Jedenfalls sollte klar sein, dass Klimapolitik und Energiewende letztlich theologisch begründet werden. So hat nun ein deutscher katholischer Theologe den Versuch gewagt, die politische Angstmache theologisch zu begründen: „Der Klimadiskurs ist mehr ein ethisch-spiritueller als ein naturwissenschaftlich-technischer Diskurs. (…) Es geht nicht primär um Klimadaten und deren Deutung, sondern um Weltanschauungen und Wertorientierungen.“ Das schreibt (durchaus zutreffend) Michael Rosenberger, Professor für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Privatuniversität im oberösterreichischen Linz, in der humanökologischen Fachzeitschrift GAiA, die unter anderem als Organ der Deutschen Gesellschaft für Humanökologie (DGH) fungiert. Rosenberger sieht allerdings in der in Deutschland über Jahrzehnte geschürten Angst vor Radioaktivität, Ressourcenerschöpfung und katastrophalen Klimaveränderungen eine moderne Form der Gottesfurcht, die nach dem Alten Testament der Bibel (Psalm 111,10) als die Mutter der Weisheit gilt. Er hält deshalb die den Forderungen nach einer radikalen „Wende“ beziehungsweise „Großen Transformation“ zugrunde liegende apokalyptische Argumentation für vollauf gerechtfertigt. „Angst rüttelt wach, reine Vernunft schläfert ein“, schreibt er. „Klimaschützerische Positionen wollen aus diesem Grund gezielt und mit guten Gründen Angst wecken.“
Als praktizierender Katholik bestreite ich selbstverständlich nicht, dass die Gottesfurcht die Mutter der Weisheit ist. Sie dient aber in erster Linie dazu, die Menschen Demut zu lehren und sie vor Dummheit infolge von Überheblichkeit zu bewahren. Ich halte deshalb die deutsche Energiewende im Hauruck-Verfahren, weil auf Wissensanmaßung beruhend, für eine weitaus größere Hybris als das von Rosenberger moralisch verurteilte Business as usual, das mir vergleichsweise bescheiden vorkommt – zumal es, wie jeder aus dem Geschäftsleben wissen sollte, durchaus laufende Verbesserungen und auch größere Innovationen einschließt. Diese müssen sich aber, im Unterschied zu politisch dekretierten Festlegungen, auf dem Markt bewähren. Wie die Gottesfurcht, davon bin ich mit Friedrich A. von Hayek überzeugt, kann auch der Markt die Menschen demütig machen.
Allerdings ist die Demutsforderung nur eine von mehreren Konsequenzen aus der Kernbotschaft der Bibel. Mindestens so wichtig wie die Gottesfurcht sind Gottvertrauen und Gelassenheit. Worin die frohe Botschaft der der Bibel im Kern besteht, hat meines Erachtens am klarsten der französisch-amerikanische Literaturwissenschaftler und Anthropologe René Girard herausgearbeitet. Ausgehend von literarischen Zeugnissen und von ethnologischen Forschungen kam Girard zur Erkenntnis, dass die Bibel neben der Heilsbotschaft auch den Schlüssel für die wissenschaftliche Erklärung des Ursprungs der Kultur enthält: Wir sind alle Nachkommen Kains, besitzen also einen angeborenen und weitgehend unbewussten Hang, andere nachahmen und übertreffen zu wollen, was zu konkurrierenden Macht- und Besitzansprüchen führen muss. Das Begehren tritt an die Stelle tierischer Instinkte. Physiologische Grundlage dieses Mimetismus sind die so genannten Spiegelneurone. Grundsätzlich ist das zunächst etwas Positives, weil es uns zum Lernen und zur Freiheit befähigt. Aber sehr leicht wird daraus ein Teufelskreis im wahrsten Sinne des Wortes.

Sublimierter Kannibalismus
Der Ursprung aller Kultur liegt nach René Girard in Menschenopfern und Kannibalismus. Etwas zugespitzt könnte man sagen: Der Mensch ist von Natur aus Kannibale. Alle Ursprungs-Mythen spielen in der einen oder anderen Weise auf den blutigen Ursprung der menschlichen Kultur an. Schon in den Stammesgemeinschaften von Jägern und Sammlern konnten Neid und Zwietracht nur besänftigt und damit die Selbstzerstörung der Gemeinschaft verhindert werden, indem von Zeit zu Zeit Sündenböcke ausgeguckt und geopfert wurden. Das konnten gefangen genommene Angehörige feindlicher Stämme, aber auch auffällige Angehörige des eigenen Stammes sein. Das Töten geschah mit gutem Gewissen. Das heißt die Opfer wurden unreflektiert als schuldig betrachtet. Durch die Wahl des Sündenbocks wurde aus dem Kampf aller gegen alle der vereinte Angriff aller gegen einen einzigen. So wurde durch die Opferung des Sündenbocks für eine gewisse Zeit wieder Eintracht hergestellt.
In hoch differenzierten Sklavenhalter-Staaten wie im alten Rom oder bei den Azteken in Mexiko wurden Menschenopfer in Form von Gladiatorenkämpfen oder priesterlichen Zeremonien vor großem Publikum ritualisiert. Schon die Versklavung an sich ist eine Form des Kannibalismus. Die Sklaven wurden ja zum Beispiel im römischen Recht nicht als Menschen betrachtet, sondern wie das Vieh als Sache. Einen Fortschritt aus heutiger Sicht stellte da sicher der Ersatz von Menschen- durch Tieropfer bei den Juden dar.
Das Christentum geht noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem es den unbewussten Mechanismus des Auswählens und Hinrichtens von Sündenböcken als Mord an Unschuldigen denunziert. Mit seinem Opfertod am Kreuz, so die Aussage der Bibel, hat Jesus als unschuldiges Opferlamm stellvertretend für alle Sünden der Welt gebüßt und die Menschen vom Fluch Kains erlöst. Weitere Menschen- und Tieropfer sind danach im Prinzip überflüssig. Die Christen sind aufgefordert, Jesu Nachfolge anzutreten, indem sie den unbewussten Mechanismus der Suche nach Sündenböcken in der Eucharistie überwinden. Die heilige Kommunion, so Girard, ist tatsächlich sublimierter Kannibalismus. (Auf diesem Hintergrund erscheint übrigens die von Rudolf Bultmann geforderte „Entmythologisierung“ der Bibel absurd, denn die Bibel ist das Ende aller Mythen, die Lynchmorde gerechtfertigt haben.)
Allerdings standen die Christen schon in der Spätantike ständig in Versuchung, in das alte Denken zurück zu fallen und nach Sündenböcken zu suchen. Es geht dabei um die Verfälschung des von den Evangelien vermittelten Menschenbildes. Die Bibel hilft uns, menschliche Schwächen zu verstehen und zeigt uns auf, dass wir diese nur in der Nachfolge Christi überwinden können. Auch der klassische Liberalismus geht wie die christliche Ethik von der Unvollkommenheit des Menschen aus. Immanuel Kant (1724 bis 1804), auf den sich sowohl Liberale als auch Christen berufen können, betonte bekanntlich, dass der Mensch „aus krummem Holz geschnitzt“ ist. Gut und Böse sind bei ihm innig verwoben. Obwohl gegen die Kirchen und ihre Würdenträger polemisierend, schloss er sich mit der Diagnose des Hangs zum „radikal Bösen“, der jedem Menschen neben dem Willen zum Guten innewohne, im Grunde der Erbsünde-Lehre des Kirchenvaters Augustinus (354 bis 430) an. Und er legte nahe, den Ursprung der menschlichen Freiheit gerade in dieser Ambivalenz zu vermuten.
Augustinus‘ Zeitgenosse und persönlicher Gegner Pelagius (ca. 350 bis 420) vertrat bekanntlich die theologische Gegenposition, die bis heute zahlreiche Anhänger hat: Alle Menschen seien ursprünglich gut, das heißt ohne Erbsünde und Kraft ihres freien Willens in der Lage, sich durch Askese und Übung selbst zu vervollkommnen. Sie seien imstande, von sich aus das Gute zu tun und dem Vorbild Jesus Christus nachzufolgen. Für Augustinus hingegen können die Menschen allein Kraft unverdienter göttlicher Gnade zum Heil gelangen. Denn der Wille des Menschen ist nach Adams Sündenfall nicht mehr frei zur Liebe. Diese muss ihm vom Gottessohn geschenkt werden. Keine menschliche Anstrengung ist in der Lage, die göttliche Gnade zu erzwingen beziehungsweise sie sich zu verdienen.
Oberflächlich besehen, könnte man eher in Pelagius als in Augustinus mit seiner Prädestinationslehre und der damit einhergehenden teilweisen Negierung der Willensfreiheit einen Stammvater des Liberalismus erblicken, denn Pelagius betonte die Willensfreiheit und persönliche Verantwortung des Einzelnen: Jeder Mensch sei in der Lage, sich jederzeit frei zwischen dem Guten und dem Bösen entscheiden und durch Selbsterlösung zum Heiligen werden zu können. Durch die Idee der Perfektibilität des Menschen bereitete Pelagius aber in Wirklichkeit dem Manichäismus, den er eigentlich bekämpfen wollte, den Boden. Denn wenn die Idee der menschlichen Perfektibilität in Form der Fortschrittsidee in die Geschichte projiziert wird, kommt es unter der Hand zur Einteilung der Menschen in Progressive und Konservative beziehungsweise Reaktionäre, das heißt in „Gute“ und „Bösartige“. Den erstgenannten gilt es dann zu schmeicheln, während die letztgenannten nicht nur theoretisch, sondern in letzter Konsequenz auch physisch bekämpft und vernichtet werden müssen. Von daher erscheint es nicht als Zufall, dass sowohl Jean Jacques Rousseau als auch Karl Marx sich mehr oder weniger offen zum Pelagianismus bekannten, denn sie gingen davon aus, dass man nur die herrschenden sozio-ökonomischen und kulturellen Verhältnisse umzustürzen brauche, um das ursprünglich Gute des Menschen wieder zur Geltung zu bringen. Die totalitären Konsequenzen dieses Ansatzes schreckten sie nicht.
Mir ist bewusst, dass die katholische Kirche, der ich angehöre, heute mehr oder weniger offen die Position des Semipelagianismus vertritt. Dieser geht zurück auf den Rumänen Johannes Cassius (360 bis 430/35), der in Marseille die Abtei St. Victor gründete. Deren Gemäuer können noch heute besichtigt werden. Johannes Cassius setze (wie heute noch die Ostkirchen) Sünde mit Krankheit gleich. Freier Wille beziehungsweise Anstrengung und göttliche Gnade müssen bei der Gesundung zusammenwirken. Die Menschen sollen ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen, indem sie die angebotene Gnade auch annehmen. Anstelle der Prädestination nimmt der Semipelagianismus lediglich ein Vorauswissen Gottes über die freien Entscheidungen der Menschen an. Die Menschen bleiben ohne Heilsgewissheit.

Durch Selbsterlösung zum Heil?
Der Begriff „Manichäismus“ ist heute in Deutschland nicht mehr sehr gebräuchlich. Man spricht treffender von „Gutmenschentum“. Ganz anders im Nachbarland Frankreich. Die ihn bei uns noch verwenden, verstehen darunter ein undifferenziertes Schwarz-Weiß-Denken. Doch es geht mehr noch um die Verdrängung der Unterscheidung zwischen „wahr“ und „falsch“ durch die Einteilung der Welt in „Gut“ und „Böse“. Der Begriff M. geht zurück auf die gnostische Erleuchtungs-Lehre des babylonischen Religionsstifters Mani (216 bis 276). Die ihr zugrunde liegende Denkfigur ist aber wesentlich älter. Denn was Jesus Christus nach dem Zeugnis der Bibel den Pharisäern (eigentlich den Sadduzäern) vorwirft, ist bereits Manichäismus reinsten Wassers. Denn diese erheben den Anspruch, durch die strenge Befolgung des Gesetzes zu besseren Menschen geworden zu sein. Jesus betonte hingegen, als er eine Ehebrecherin vor der Steinigung bewahrte (Joh 8, 3-11), niemand dürfe sich zum Richter über andere aufspielen, weil wir alle Sünder sind. Allein durch Gesetze (und auch nicht allein durch den Markt), das können wir daraus lernen, lässt sich kein menschliches Gemeinwesen zusammenhalten. Es bedarf zu allererst der von Gott geschenkten Liebe, die etwas ganz anderes bewirkt als die von den Pharisäern gepflegte Eigenliebe. Dort wo die Liebe ganz fehlt, kann aber auch der Hass die Menschen eine Zeit lang zusammenschweißen, sagt René Girard.
Es gehört zu den Kernsätzen des christlichen Glaubens, dass die Menschen sich nicht selbst erlösen können, weil sie die Lebensressourcen „Liebe“ und „Sinn“ nicht selber herstellen, sondern nur empfangen können. Die erste große häretische Bewegung in der Geschichte des Christentums, die Gnosis, hingegen behauptete, nicht die von Gott geschenkte Liebe und Gnade, die Erlösung durch den stellvertretenden Opfertod Jesu Christi führten zum Heil, sondern die Annahme der Erkenntnis beziehungsweise „Erleuchtung“, dass der Gott des Alten Testaments in Wirklichkeit Satan gewesen sei, weil er die materielle Welt als „Gefängnis des Lichts“, erschaffen habe. Hier hat übrigens der Antisemitismus der Neuzeit seine Wurzeln.
Der von der Kirche auf Konzilen verurteilte und später in Form von Kreuzzügen physisch bekämpfte gnostisch-manichäische Reinheitskult geht von folgenden den Geist der Bibel verfälschenden Annahmen aus: Die geistige Welt des Lichts wurde vom guten Licht-Gott erschaffen, die materielle Welt hingegen vom bösen Gott, dem Fürsten der Finsternis. Folglich kann der gute Gott nicht körperlich Mensch geworden sein und die Schuld der Menschen durch den Tod am Kreuz auf sich genommen haben. Er kann danach auch nicht leiblich wiederauferstanden sein. Die damit begründete Leibfeindlichkeit wurde im Hochmittelalter (vom 11. bis zum 13. Jahrhundert) von den verschiedenen Sekten der Katharer („die Reinen“) auf die Spitze getrieben. Entsprechend dem pelagianischen Ideal der Selbstvervollkommnung unterteilten sie ihre Anhänger in eine kleine Elite, die „Vollkommenen“ (Perfecti), und die Masse der einfachen Gläubigen (Credenti). Um der Gefangenschaft des Materiellen zu entfliehen, verboten sie ihren Anhängern den Fleischgenuss und zwangen die Elite der „Vollkommenen“ zu Gütergemeinschaft, Armut und Ehelosigkeit. Ihr Leben sollten sie schließlich durch Selbstmord (Endura) beenden. Kein Wunder, dass Hitler und die führenden Ideologen der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands in den Katharern Seelenverwandte und Vorläufer ihrer Bewegung sahen und während der deutschen Besatzung Frankreichs Geld locker machten, um halb verfallene Katharer-Burgen in Südfrankreich zu restaurieren.
Die gnostisch-manichäische Denkfigur spielte aber nicht nur bei den Katharern eine unheilvolle Rolle, sondern, wie bereits angedeutet, auch und gerade in der europäischen „Aufklärung“, was ja auch Erleuchtung heißt. Ich stelle den Begriff hier bewusst in Anführungszeichen, weil er meines Erachtens Ausdruck von Anmaßung und Eigenlob ist. (Ich schließe mich hier den Ausführungen des deutschen Mediävisten Johannes Fried und des in Liechtenstein lehrenden liberalen Religionsphilosophen Daniel von Wachter an.) Mit dem erst im Jahre 1775 geprägten Begriff „Aufklärung“ feierten sich philosophierende Schriftsteller als Erleuchtete, die endlich das Licht der Vernunft in die vom abergläubischen Christentum verursachte Dunkelheit des Mittelalters bringen. Sie stellten also in manichäischer Manier das „gute“ Zeitalter der Aufklärung dem „bösen“ Mittelalter entgegen, indem sie den mittelalterlichen Philosophen unterstellten, sie hätten die Erde für eine Scheibe gehalten. Zwischen Mittelalter und Neuzeit gebe es einen historischen Bruch, behaupteten sie. In Wirklichkeit gibt es m. E. in der Geschichte nur eine Zäsur. Das ist der uns erlösende Kreuzestod Jesu Christi. Unsere Zeitrechnung trägt dem (noch!) Rechnung. Wir Christen leben in gewisser Weise seit 2.000 Jahren in der Gegenwart. Unsere Aufgabe ist es, allen Völkern die frohe Botschaft von der Überwindung jeglicher Form von Kannibalismus zugänglich zu machen.
Johannes Fried weist in seiner großen Geschichte des Mittelalters darauf hin, dass im deutschen Sprachraum nicht zuletzt Kant mit seinen spöttischen Bemerkungen über den Katholizismus und den Kunstgeschmack des „finsteren Mittelalters“ den Eindruck erweckte, als hätten erst Voltaire und seine Freunde den Vernunftgebrauch erfunden. Ein Hinweis auf mittelalterliche Denker wie Thomas von Aquin oder Wilhelm von Ockham sollte genügen, um die Absurdität dieser selbstgerechten Pose zu illustrieren.
Bei unvoreingenommener Betrachtung erscheint die Zeit zwischen 500 und 1500 nach Christus als eine der kreativsten Epochen der Weltgeschichte. Im Mittelalter entstanden nicht nur die geistigen Voraussetzungen für die modernen Naturwissenschaften, die der Vorstellung eines vernünftigen Schöpfers der Welt bedurften, also nur in einer jüdisch-christlich geprägten Kultur aufkommen konnten. Im Mittelalter bildete sich auch eine vom altgriechischen Vorbild inspirierte Kultur städtischer Selbstverwaltung mit Gedanken- und Redefreiheit heraus. Mit dem Erstarken des städtischen Bürgertums wurde dann jene Idee der religiösen und politischen Freiheit wirkmächtig, deren Urheberschaft die „Aufklärer“ für sich beanspruchen. Fried schließt: „Das Mittelalter war reifer und weiser, neugieriger, erfindungsreicher und kunstsinniger, revolutionärer in Vernunftgebrauch und Denken als jene Aufklärer ahnten und die meisten Zeitgenossen des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts meinen. Dieses Mittelalter war zugleich demütiger und bescheidener in seinen Urteilen über sich selbst.“
Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich möchte hier nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und stehe selbstverständlich zu den wirklich vernünftigen Errungenschaften, die wir, direkt oder indirekt, der Aufklärung verdanken. Ich lehne es aber ab, darin einen Bruch mit dem Mittelalter zu sehen. Zu den problematischen Hinterlassenschaften der Aufklärung gehört aber nicht nur das oben skizzierte irreführende Bild vom christlichen Mittelalter, sondern eine noch verhängnisvollere Erfindung: die Vorliebe für geistige Gleichschaltung und politische Korrektheit. Ein schlagendes Beispiel dafür ist das durch den Hinweis auf Kant begründete Verbot der durchaus anspruchsvollen Philosophie des Pietisten Christian August Crusius durch den preußischen Kultusminister Karl Abraham von Zedlitz in der Regierungszeit des Voltaire-Freundes Friedrich II.

Simulationen statt Wahrheitssuche
Die schon in der Aufklärung angelegte Tendenz zur Gleichschaltung des wissenschaftlichen Diskurses nimmt in der Postmoderne vollends überhand. Hier zählen Fakten am Ende gar nicht mehr, sondern nur noch Simulationen und deren Interpretation. Einmütigkeit über faktenfreie Hypothesen und Theorien kann eben nur mittels politischer Gleichschaltung hergestellt werden. Das zeigt sich aktuell besonders deutlich in der mithilfe von Computersimulationen geschürten Angst vor einer Klimakatastrophe infolge eines Anstiegs der atmosphärischen Kohlenstoffdioxid-Konzentration. Dabei bedienen sich die selbst ernannten Klimaschützer der in Deutschland vor allem von Jürgen Habermas salonfähig gemachten manichäischen Denkfigur „Gut“ gegen „Wahr“. Die Ächtung des wichtigsten Pflanzennährstoffs als „Klimakiller“ schließt ja ein, dass man die materielle Welt für ein Werk Satans hält. Die Forderung, den ökologischen Fußabdruck der Menschheit zu minimieren, könnte direkt von den Katharern übernommen sein. Wie ihre mittelalterlichen Vorgänger fordern auch die modernen Manichäer einen radikalen Bruch mit der schlechten Vergangenheit, indem sie eine „Energiewende“ ausrufen.
Erinnert sei hier auch an das pharisäerhafte Auftreten des Ex-US-Vizepräsidenten und Friedens-Nobelpreisträgers Al Gore. Dieser trieb die Aufklärer-Pose in seiner bekannten Video-Montage „Eine unbequeme Wahrheit“ (2006) nicht zufällig bis zur Karikatur. Den „Leugnern“ spricht er darin jegliches Existenzrecht ab. Stimmen, die die Todesstrafe für „Klimaskeptiker“ forderten, ließen denn auch nicht lange auf sich warten. Ohnehin riskieren Forscher, die sich nicht dem vom UN-„Weltklimarat“ IPCC proklamierten „Konsens“ über die menschliche Schuld am Klimawandel anschließen, längst ihre Karriere. Es ist von daher kein Wunder, dass sich Zweifler erst zu Wort melden, wenn sie das Ruhestandsalter erreicht haben. Kurz: Die Freiheit von Forschung und Wissenschaft ist heute auf diesem Gebiet wieder beinahe so stark bedroht wie im Nazi-Reich. Dazu bemerkt René Girard treffend: „Die Söhne wiederholen die Verbrechen ihrer Väter genau deshalb, weil sie sich ihnen moralisch überlegen fühlen.“
Noch schlimmer als die Diffamierung und soziale Ausgrenzung von „Skeptikern“ ist selbstverständlich die Rechtfertigung von Menschenopfern durch das manichäische Denken. So führt die durch das Vergären oder Verheizen von Nahrungspflanzen wie Mais und Weizen zum Zwecke der Erzeugung „erneuerbarer“ Energie ausgelöste Konkurrenz zwischen Tank und Teller zur Verteuerung von Nahrungsmitteln und dadurch unmittelbar zu sinkenden Überlebenschancen für die Ärmsten der Armen. Die Verteuerung der Stromversorgung durch die Subventionierung „erneuerbarer“ Energien über die EEG-Umlage führt in Deutschland zu einer neuen Form der Armut, weil sozial Benachteiligte ihre Stromrechnungen nicht mehr bezahlen können. Die mit der EEG-Umlage verbundene finanzielle Umverteilung von unten nach oben stellt sich in der gängigen Begründung der deutschen „Energiewende“ freilich ganz anders dar. Selbstverständlich will man den Armen nur Gutes tun und bietet ihnen daher alle möglichen Hilfen an.

Die Opferperspektive und der Antichrist
Denn im aktuellen Zeitgeist spielen Schwarz-Weiß-Malerei und die Suche nach Sündenböcken keine zentrale Rolle mehr. Im Gegenteil: Nicht zuletzt infolge der Aufarbeitung und „Bewältigung“ der Judenverfolgung im Nazi-Reich hat sich ein genereller Perspektivwechsel von den Verfolgern zu den Opfern vollzogen. Die Opfer kollektiver Lynchmorde gelten nicht mehr wie im antiken Dionysos-Kult oder in der spätmittelalterlichen beziehungsweise frühneuzeitlichen Hexenverfolgung als schuldig, sondern von vornherein als unschuldig. Die Sorge um reale oder vermeintliche Opfer in Form des Humanitarismus („Menschismus“-Ideologie) ist sogar zur Triebkraft eines umgepolten mimetischen Wettstreits zwischen Gutmenschen geworden. René Girard hält den daraus erwachsenden totalitären Imperativ übrigens für den primären Antrieb der Globalisierung. Darin könnte man den Triumph der Opfer-Perspektive des Christentums über Nietzsches Denunzierung der „Sklavenmoral“ und Rechtfertigung dionysischer Blutorgien sehen, würde nicht inzwischen gerade der eindeutig auf christliche Wurzeln zurückgehende Humanitarismus, mit Pussy Riot und Femen als Avantgarde, als blasphemische Propaganda für einen aggressiven Neopaganismus missbraucht.
Der neue Totalitarismus präsentiere sich als Befreier der Menschheit, bemerkt René Girard. Um Christi Platz zu usurpieren, ahmten die weltlichen Mächte ihn rivalisierend nach und brandmarkten die christliche Sorge um die Opfer als heuchlerische Nachahmung ihres authentischen Kreuzzugs gegen Unterdrückung und Verfolgung. So zeige sich die wahre Bedeutung der Rede des Neuen Testaments vom „Antichrist“: „Beim Versuch, seine Stellung erneut zu festigen und wieder zu triumphieren, bedient sich Satan in unserer Welt der Sprache der Opfer. Satan ahmt Christus immer perfekter nach und scheint ihn sogar zu übertreffen.“ Dabei hält Girard den Satan nicht für eine Person aus Fleisch und Blut und mit Klumpfuß, sondern für eine Art Software, genau genommen eine Malware.

Literatur
Chantal Delsol: Qu’est-ce que l’homme? Cours familier d’anthropologie, Paris 2008
Johannes Fried: Das Mittelalter. Geschichte und Kultur, München 2008
Edgar L. Gärtner: Öko-Nihilismus 2012. Selbstmord in Grün., Jena 2012
René Girard: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums, Frankfurt am Main und Leipzig 2008
René Girard: Les origines de la culture, Paris 2010
Michael Hesemann: Hitlers Religion. Die fatale Heilslehre des Nationalsozialismus, Augsburg 2012
Igor R. Schafarewitsch: Der Todestrieb in der Geschichte. Erscheinungsformen des Sozialismus, Frankfurt/M – Berlin – Wien 1980
Daniel von Wachter: Der Mythos der Aufklärung. Teil 1: Eigenlob stinkt 
Daniel von Wachter: Der Mythos der Aufklärung. Teil 2: Preußische Könige

 

(Zuerst erschienen in: Lutherische Nachrichten. 35. Jahrgang, Nr. 1/2015)