Friedrich Nietzsche als Vorbild?
Bildquelle: Frederic Legrand – COMEO / Shutterstock.com Auf dem Marsch: Emmanuel Macron
Am 14. Mai 2017, übergab der bisherige sozialistische Präsident der französischen Republik, François Hollande, nachdem er seine Wähler fünf Jahre lang tief enttäuscht hatte, feierlich das Amt an seinen Nachfolger Emmanuel Macron. In seltener Einmütigkeit versuchten unsere politisch korrekten Massenmedien die Wahl des linken Banksters als haushohen Sieg über die böse Nationalistin Marine Le Pen zu verkaufen. Alle starrten auf den beeindruckenden Unterschied der Prozentzahlen: 64 zu 36 Prozent. Das sei ein Votum für die Vertiefung der Zusammenarbeit in der EU in Form der von Macron angeregten Einrichtung eines europäischen Finanzministeriums und der Ausgabe von Euro-Bonds, hieß es. Dabei zeigen die absoluten Zahlen, dass Macron nur von etwa 20 Millionen der insgesamt fast 48 Millionen Wahlberechtigten (das sind nur 44 Prozent) gewählt wurde. Über ein Viertel der Wahlbürger blieb den Urnen fern, weitere elf Prozent (das sind über vier Millionen) warfen leere oder ungültig gemachte Stimmzettel in die Urnen. (Es wird übrigens gemeldet, dass ein Großteil dieser ungültigen Stimmzettel schon beschädigt waren, als sie von der Post versandt wurden.) Immerhin fast elf Millionen Franzosen (etwa 22 Prozent der Wahlberechtigten) wählten Marine Le Pen.
Wenn man davon ausgeht, dass die meisten Nichtwähler nicht aus Faulheit zu Hause blieben, sondern aus Protest gegen das allzu EU-freundliche Programm Macrons, und dass überdies viele Konservative Macron nur gewählt haben, um der in ihren Augen unfeinen Dame Le Pen den Weg in den Élysée-Palast zu versperren, dann bleibt nur der Schluss, dass eine deutliche Mehrheit der französischen Wähler nicht an Macrons Versprechen eines politischen und gesellschaftlichen Neuanfangs glaubt. Nach einer Umfrage des Instituts Ipsos/Sopra Steria unmittelbar nach der Wahl haben von den Wählern Macrons 43 Prozent lediglich Le Pen verhindern wollen, 33 Prozent hofften allgemein auf frischen Wind in der Politik, und nur 16 Prozent wählten Macron wegen seines Programms.
Wie Macron vor diesem Hintergrund bei den im Juni anstehenden Wahlen zur Nationalversammlung eine einigermaßen regierungsfähige Mehrheit zusammenbringen könnte, erscheint als beinahe unmögliches Kunststück, zumal nach der zitierten Umfrage des Instituts Ipsos/Sopra Steria eine klare Mehrheit von 61 Prozent der Befragten nicht wünscht, dass Macrons Partei La République en Marche die Mehrheit der Sitze in der Nationalversammlung erringt. Am 11. Mai hat Macrons Partei eine Liste von 428 Kandidaten (genau 214 Männer und 214 Frauen) für die Parlamentswahlen am 11. und 18. Juni veröffentlicht. Wie erwartet beziehungsweise versprochen, ist eine knappe Mehrheit von 52 Prozent dieser Kandidaten bislang nicht professionell politisch tätig gewesen. Nur 24 Kandidaten vertraten bisher die Sozialistische Partei in der Nationalversammlung. Es finden sich auf der Liste keine Mitglieder der Partei Les Républicains (LR) des geschlagenen konservativen Präsidentschaftskandidaten François Fillon. Für 149 Wahlkreise gibt es vorerst keinen Kandidaten der Partei Macrons. Dazu gehört der Wahlkreis des bisherigen sozialistischen Premierministers Manuel Valls. Dieser hätte gerne für Macron kandidiert, musste aber zurückstehen, weil die neue Partei keine Kandidaten akzeptiert, die bereits während mehr als zwei Legislaturperioden in der Nationalversammlung saßen.
Zumindest die Sozialistische Partei (PS) gilt nach dieser Schicksalswahl nach Manuel Valls als „tot“. Aber auch um die Republikaner und selbst um Marine Le Pens Front National steht es nicht viel besser. Der Sieg François Fillons in offenen Vorwahlen gegen den von der Finanzoligarchie als Nachfolger des erbärmlichen sozialistischen Präsidenten François Hollande aufgebauten Alain Juppé war für die einen eine böse Überraschung, zeigte aber den anderen zumindest, dass die Mehrheit der Wähler der LR deutlich weiter rechts stand als die meisten Granden der Partei. Statt sich dieser Wählerschaft zuzuwenden, hat sich die LR noch mehr zur Mitte hin orientiert, wo sie jedoch kaum Chancen hatte gegen den frisch und jugendlich wirkenden „unabhängigen“ Kandidaten Emmanuel Macron. Das zeigt, wie kopflos die französische Rechte insgesamt ist. Sie wird schon seit der Französischen Revolution als die „dümmste Rechte der Welt“ geschmäht, weil sie immer wieder ihren „Hoffnungsträgern“ in den Rücken fällt. Schon seit der Präsidentschaft Valérie Giscard d’Estaings laufen die französischen Konservativen Gefahr, in der linksliberal orientierten „Bobosphäre“ der Metropolen aufzugehen und von den regional und national Verwurzelten, die unter der grenzen- und prinzipienlosen Globalisierung nicht nur wirtschaftlich leiden, schlicht als ein Teil der herrschenden Finanzoligarchie und ihrer medialen Helfershelfer wahrgenommen zu werden. Die zur „Périphérie“ gehörenden Franzosen, die nach den Analysen des französischen Geographen Christophe Guilluy etwa 60 Prozent der Bevölkerung ausmachen, stoßen sich immer häufiger daran, dass sie in den Konzeptionen der Befürworter offener Grenzen und unkontrollierter Masseneinwanderung nur als Strichmännchen und nicht als historisch-konkrete Persönlichkeiten vorkommen. Die französischen Konservativen hätten wohl nur dann eine Chance, als maßgebende politische Kraft zu überleben, wenn sie nach dem Vorbild der britischen Torys die wachsende Kluft zwischen „oben“ und „unten“ zu überbrücken suchten. Vielleicht ist es dafür schon zu spät.
Nachdem Marine Le Pen ihr Fernseh-Duell mit Emmanuel Macron nach Strich und Faden versemmelt hat (Meinungsforscher rechnen vor, dass sie damit fast zehn Prozentpunkte ihres Wählerpotentials eingebüßt hat), zeigen sich auch beim Front National (FN) immer deutlicher zentrifugale Kräfte. Die kurz vor dem Fernseh-Duell geschlossene Allianz zwischen Le Pen und dem konservativen Gaullisten Nicolas Dupont-Aignan hat den Ausgang der Präsidentschaftswahl nicht überlebt. Le Pens südfranzösische Nichte Marion Maréchal-Le Pen, die bislang einzige Vertreterin des FN in der Nationalversammlung, die trotz ihres jugendlichen Alters viel belesener und besonnener auftritt als ihre Tante, hat nun der Politik – angeblich aus rein privaten Gründen – den Rücken gekehrt. Man kann es ihr nachfühlen. In der FN gären Konflikte zwischen Le Pens wichtigstem Berater Florian Philippot und der Parteibasis über die Haltung der Partei zum Euro und zur katholischen Massenbewegung gegen die Abtreibung, die Gender-Indoktrination der Kinder, die Homo-Ehe und die Leihmutterschaft.
Macron hat nicht nur in seinem mehr autobiographischen als programmatischen Buch „Revolution“, sondern auch bei seiner offenbar einstudierten Siegeskundgebung am Abend des 7. Mai im Hof des Louvre zu erkennen gegeben, dass er Nietzsches voluntaristische „Umwertung der Werte“ der rationalen Philosophie Kants vorzieht. Selbst der Name der Bewegung „En Marche!“ ist eine Anspielung auf Nietzsche. Nach den Deutschen wollen nun offenbar auch die französischen Bobos Dionysos zu ihrem Gott machen. Auch deshalb verstehen sich Merkel und Macron anscheinend blendend. Ich möchte die beiden aber daran erinnern, dass Nietzsche durchdrehte, als ihm bewusst wurde, dass er lediglich mit der Meute geheult hatte, als er in der Absicht, sich vom Ressentiment der einfachen Menschen abzusetzen, für das Dionysische und gegen das Apollinische Partei ergriff. (Der vor anderthalb Jahren verstorbene französisch-amerikanische Literaturwissenschaftler René Girard hat das im Detail herausgearbeitet.) Ich möchte Macron sowie seinen Hintermännern und Anhängern nicht unterstellen, dass sie das Chaos suchen. Dieses wird aber kommen, denn die „Périphérie“ wird nicht stillhalten.
(zuerst veröffentlicht am 15. Mai 2017 in: ef-magazin.de)