Zum Teil wohl eine Folge chronischer Entzündungen
Edgar L. Gärtner
Der Franzose Gabriel Tarde, einer der Begründer der modernen Soziologie und Kriminologie, hat schon im 19. Jahrhundert beobachtet, dass verschiedene Verbrechen wellenartig häufiger und dann wieder seltener werden. Tarde sprach deshalb von Verbrechensmoden, die sich wie Kleider- und Haarmoden oder Kunststile vor allem durch Nachahmung verbreiten. Auf einem ähnlichen Weg scheinen sich heute aber auch neuartige Krankheitsbilder auszubreiten, die physiologisch nicht eindeutig definierbar sind und deren Symptome individuell stark variieren können. Der kanadische Historiker und Medizinsoziologe Edward Shorter hat schon zu Beginn der 1990er Jahre in seinem Buch „Moderne Leiden. Zur Geschichte der psychosomatischen Krankheiten“ (deutsch 1994) die Ansicht vertreten, bei manchen modernen Leiden handele es sich um Modeerscheinungen, die wahrscheinlich irgendwann genauso unerklärt wieder verschwinden, wie sie aufgetaucht sind, und dann von neuen Modekrankheiten abgelöst werden.
Als historisches Modell für eine solche Modekrankheit gelten die vom berühmt-berüchtigten Pariser Neurologen Jean-Martin Charcot (1825-1893) als Chefarzt der noch heute bestehenden Klinik Salpêtrière im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beschriebenen häufigen hysterischen Lähmungen bei Damen aus besseren Kreisen beziehungsweise deren Empfänglichkeit für Suggestionen. Diese und andere angeblich erblichen psychosomatischen Beschwerden verschwanden jedoch nach Charcots Tod urplötzlich aus dem klinischen Alltag. Das heißt, die Patientinnen hatten nur Theater gespielt, um dem Meister zu gefallen.
Als Beispiel für eine aktuelle Modekrankheit nannte Shorter das Chronic Fatigue Syndrom (CFS). Dieses ist nach seiner Meinung eine Begleiterscheinung des postmodernen individualistischen Lebensstils. Auch die Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) könnte in diese Kategorie fallen. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass die Diagnose ADHS von der Pharmaindustrie erfunden wurde, um mehr Psycho-Pillen für die Ruhigstellung zappeliger und unaufmerksamer Schüler verkaufen zu können. Von daher lag es nahe, auch die unter dem Namen „Burnout“ bekanntgewordene tiefe physische, emotionale und mentale Erschöpfung beruflich über längere Zeit stark geforderter Zeitgenossen zunächst als Modekrankheit abzutun, zumal der Begriff nicht durch Fachleute, sondern durch einen 1960 erschienenen Roman von Graham Greene geprägt wurde. Doch inzwischen gibt es immer mehr erfahrene Mediziner, die das nicht so sehen.
Nach einer niederländischen Studie haben etwa 30 Prozent aller Arztbesuche mit lang andauernden Erschöpfungsbeschwerden zu tun. Nach einer US-Studie haben bereits 20 Prozent aller Amerikaner Erschöpfungsphasen durchgemacht, die ihren normalen Lebensablauf beeinträchtigten. Zum Teil gibt es dafür sicher auch einfache Erklärungen wie die Tatsache, dass heute schätzungsweise 35 Prozent aller Amerikaner laufend zu wenig Schlaf finden. Die Ursachen dafür liegen wohl zum einen bei der zunehmenden Zahl von Ablenkungen, wie sie Computerbildschirme, Smartphones oder Disco-Besuche bieten. Zum anderen kann aber auch der stressige Berufsalltag (insbesondere in Berufen mit Personenkontakt) für schlaflose Nächte sorgen. Wie die britische Historikerin Anna Katharina Schaffner von der University of Kent in Canterbury in ihrem Buch „Exhaustion. A History“ aufzeigt, haben sich die Menschen zwar schon immer über Erschöpfung beklagt, aber zu keiner Zeit wurde von den Menschen im Arbeitsleben so viel verlangt wie in der heutigen.
Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an die vielen Feiertage, die den Arbeitsalltag im christlichen Mittelalter unterbrachen. Ich kann mich selbst noch daran erinnern, wie in meinem Heimatdorf die Bauern in den 1950er Jahren ihre Arbeit angingen. Zwar machten sie vor allem zur Erntezeit „Überstunden“, aber dafür konnten sie sich während der Wintermonate wirklich ausruhen. Heute dagegen finden viele Angestellte, dank ständiger Erreichbarkeit über das Smartphone, nicht einmal mehr an den Sonntagen ihre verdiente Ruhe.
Um Schlafmangel von einer ernsten Erschöpfung zu unterscheiden, gibt es übrigens einen einfachen Test, der in den Schlaflabors von Krankenhäusern praktiziert wird: Schläft ein bei Tage ruhig daliegender Patient schon nach wenigen Minuten ein, leidet er lediglich an Schlafmangel. Ist er aber nach 15 Minuten noch wach und fühlt sich dennoch müde, leidet er unter Erschöpfung. Die amerikanische Neurologin Mary Harrington sucht am Smith College in Northampton/Massachusetts zwar nach präziseren Kriterien, hat aber bislang noch keinen biologischen Indikator gefunden, der alleine über den Erschöpfungszustand eines Patienten Aufschluss geben könnte. Sie ist sich aber sicher, eine der Ursachen seien Abweichungen der „inneren Uhr“ des Hirnkerns Nucleus suprachiasmaticus (SCN) vom normalen Tag-Nacht-Rhythmus. Sie rät deshalb, abends möglichst früh das elektrische Licht auszuschalten, damit der mit der Retina und der Zirbeldrüse verbundene SCN in den Nacht-Modus umschalten kann, und zu Tagesbeginn mindestens 20 Minuten im Freien zu verbringen, damit der SCN in den Tag-Modus zurückfindet.
Der SCN als Schaltstelle für den Tag-Nacht-Rhythmus reagiert nicht nur auf Licht, sondern auch auf körperliche Bewegung. Heutzutage erledigen die Menschen gerade nervlich anstrengende Tätigkeiten immer häufiger sitzend. Das gilt selbst für einen anscheinend so naturverbundenen Beruf wie Landwirt. Langes Sitzen begünstigt nicht nur Hüft-, Knie- und Bandscheiben-Beschwerden, sondern auch die Bildung von Bauchfett. Dieses wiederum fördert über den Ausstoß von Zytokinen chronische Entzündungen von Arterien und Gelenken. Leichte Entzündungen waren bei unseren Urahnen wohl schlicht Ausdruck einer Schärfung des Immunsystems für die Abwehr von Bakterien- und Viren-Infektionen. Diesem Zweck dienten wohl auch die die Entzündungen unweigerlich begleitenden Müdigkeitssymptome. Diese veranlassten die Menschen, sich auszuruhen, um den Mikroben-Angriffen besser widerstehen zu können.
Wahrscheinlich ist auch das moderne Burnout wenigstens zum Teil eine Folge chronischer Entzündungen. Denn im Blut von Menschen mit dem Fatigue-Syndrom finden sich meistens erhöhte Konzentrationen des Entzündungs-Markers IL-6. Allerdings blieben die Burnout-Symptome bei einem Teil der Patienten noch lange nach der Normalisierung ihrer IL-6-Werte bestehen. Ranjana Mehta, die das neuroergonomische Laboratorium des Texas A&M Institute for Neuroscience leitet, regt deshalb an, im Burnout eher eine Form von Depression zu sehen. Doch was ist eine Depression? „Wenn es nach mir ginge“, so ein deutscher Psychiater im letzten Herbst wörtlich, „würde man den Begriff ‚Depression‘ ersatzlos aus dem Sprachgebrauch der Psychotherapie/Psychiatrie streichen“. Er wollte damit ausdrücken, dass der Begriff eine große Vielfalt an Symptomen bezeichnet, die höchstwahrscheinlich nicht auf eine gemeinsame Ursache zurückgeführt werden können und deshalb auch auf Medikamente und/oder Psychotherapien sehr unterschiedlich ansprechen. Eine von diesen Ursachen sind höchstwahrscheinlich chronische Entzündungen, womit sich der Kreis schließt.
Es gibt einen starken Zusammenhang zwischen chronischen Entzündungen und Schlafmangel. Zwar führt Schlafmangel, wie eine kürzlich von Stephanie Wilson und ihren Mitarbeiterinnen von der Ohio State University in der Fachzeitschrift „Psychoneuroendocrinology“ veröffentlichte Studie zeigt, nicht direkt zu chronischen Entzündungen. Aber er mache die Betroffenen anfällig für Beziehungsstress. Dieser führe dann zu chronischen Entzündungen und im Endeffekt zum Burnout-Syndrom.
Zum Burnout-Syndrom gehören emotionale Symptome wie Angst, Traurigkeit und Gefühllosigkeit, kognitive Symptome wie Gedächtnisstörungen, nachlassende Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit, Verhaltensauffälligkeiten wie soziale Isolierung, Aggressivität, Suchtneigung, motivationale Symptome wie Gleichgültigkeit, Antriebslosigkeit und Selbstzweifel sowie physische Symptome wie Schlafstörungen, Muskelschmerzen und Verdauungsstörungen. Da ein Teil dieser Symptome zu den Allerweltsbeschwerden zählt, stoßen Patienten, die darüber klagen, oft noch immer auf Unverständnis.
Zumindest in unserem Nachbarland Frankreich soll nun damit Schluss sein. Dessen oberste medizinische Autorität hat vor einigen Wochen Richtlinien für die Behandlung von Burnout-Patienten veröffentlicht. Im Vordergrund steht dabei die Einschätzung der Suizidgefährdung der Patienten. Denn es hat in Frankreich im Zuge der Privatisierung von Staatsbetrieben der Telekommunikation und des damit verbundenen Umstellungsfrusts bei leitenden Angestellten regelrechte Selbstmordwellen gegeben. In Deutschland ist Burnout nicht als Krankheit anerkannt. Folglich gibt es bei uns auch keine Behandlungsrichtlinien. Immerhin beschäftigt sich aber die Arbeitsmedizin mit Vorbeugemaßnahmen. Doch diese beziehen sich hauptsächlich auf berufliche Belastungen und nur am Rande auf das individuelle Schlafbedürfnis
(zuerst veröffentlicht in: ef-magazin.de)