Ein historisches Opus Magnum von Markus Spieker
von Edgar L. Gärtner
Warum vertieft sich jemand in einen 1000-seitigen Wälzer über das Leben Jesu Christi und dessen Einfluss auf den Gang der Weltgeschichte? Ich gebe zu: Bei mir war es der tiefe Schmerz über das jähe Ende einer (vermeintlich) großen Liebe. Nachdem ich das dicke Buch durchgearbeitet habe, kann ich sagen, dass dessen Lektüre mich von meinem Liebeskummer gründlich kuriert hat. Wenn das keine Empfehlung ist!
In der Tat ist die treue, sich verschenkende Liebe (Agape, hebräisch Chesed) zentrales Thema dieses Buches. Nicht von ungefähr beginnt unsere Zeitrechnung (noch!) mit Christi Geburt. Warum das so bleiben sollte, erklärt der Journalist Markus Spieker in seinem hochaktuellen Werk mit dem verheißungsvollen Titel „Jesus. Eine Weltgeschichte.“ Markus Spieker (50) hat als Sohn eines frommen Pastors die biblische Geschichte sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen. Er wurde aber nicht Theologe, sondern promovierte in Alter Geschichte, wirkte dann als TV-Korrespondent im Hauptstadt-Studio der ARD in Berlin und leitete von 2015 bis 2018 das ARD-Studio Südasien mit Sitz in Neu-Delhi. Zuletzt arbeitete er als Chefkorrespondent des MDR in Leipzig. Er hat sich bereits durch eine Reihe interessanter Bücher hervorgetan. Der Stil seines neuesten Buches ist alles andere als akademisch, sondern sehr populär, stellenweise durch den Gebrauch von Modewörtern sogar flapsig. Es ist deshalb besonders leicht lesbar. Dabei hält sich Spieker aber immer streng an den Stand der historischen und archäologischen Forschung.
Mit seinem dicken Opus möchte Spieker den Menschen nach eigenen Worten „helfen, einen festen Glaubensboden unter ihren Füßen zu bekommen.“ Dabei erweist es sich als vorteilhaft, dass er sich auf die historischen Fakten konzentriert und nicht in theologischen Spitzfindigkeiten verliert. So kann er zeigen, dass die Menschheit sich nicht spontan und geradlinig in Richtung auf einen sittsamen Monotheismus und einen aufgeklärten Rationalismus bewegt. Der Althistoriker schildert plastisch die Zustände im Römerreich, in die Jesus (vermutlich fünf Jahre vor Beginn der modernen Zeitrechnung) hineingeboren wurde: Von der ursprünglichen Gottesebenbildlichkeit des Menschen hatten wirtschaftliche und sexuelle Sklavenausbeutung, erotische Ausschweifungen, Mord und Totschlag zwischen Rivalen im Kampf um Ruhm, Geld und Macht sowie die systematische Tötung unerwünschter Kinder kaum etwas übrig gelassen. Die begehrende Liebe, der Eros, dem der römische Dichter Ovid huldigt, stand neben dem Machtstreben zumindest äußerlich hoch im Kurs, aber die Agape war absolute Mangelware. Wie der Kirchenlehrer Athanasius im 4. Jh. n. Chr. schrieb, musste der Logos persönlich zur Erde heruntersteigen, „um als Bild des Vaters den ebenbildlich erschaffenen Menschen wiederherzustellen.“
Von da an verlief die Weltgeschichte anders. Die meisten Menschen werden das heute nicht mehr glauben wollen. Aber Markus Spieker belegt mit vielen Details, wie sich Gottes Reich der treuen Liebe nach und nach gegen den Widerstand der Mächtigen und teuflische Versuchungen der Schwachen durchsetzte. Freilich gab es auch immer wieder Rückschläge. Die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion im Römerreich Jahrzehnte nach der konstantinischen Wende hat der christlichen Liebesbotschaft nicht gutgetan. Liebe und weltliche Macht wachsen auf verschiedenem Holz. In den Worten von Markus Spieker: „Macht macht das Herz kalt und lässt es schrumpfen.“ Das Reich der Liebe ist „nicht von dieser Welt.“ Deshalb wandten sich Kirchenlehrer, angefangen mit Irenäus von Lyon, mit Nachdruck gegen Versuche, die christliche Botschaft zu verweltlichen, sie durch den Verzicht auf die Gebote des Alten Testaments in eine gefälligere Form zu bringen. Es gibt keinen Gegensatz zwischen einer neutestamentlichen „Liebesethik“ und einer alttestamentlichen „Gehorsamsethik“, denn Jesus wies ausdrücklich darauf hin, dass er die Weisungen der Tora nicht aufheben will.
Am bittersten (und nachhaltigsten) waren die Niederlagen der Christen gegenüber der kriegerischen Expansion der Mohammedaner, die die Gottessohnschaft Jesu leugnen und Liebe im Sinne von Agape nicht in ihrem Programm haben. Erst nach Jahrhunderten beantworteten christliche Mächte die islamische Aggression durch die „Kreuzzüge“. Heutige Wellness-Gläubige sehen darin einen Verstoß gegen den Geist der Bergpredigt. Doch die Forderung „Liebt Eure Feinde!“ meint nicht die Täter-Umarmung beziehungsweise unsere Selbstauslieferung an moralisch destruktive Persönlichkeiten. Das betont auch Markus Spieker. Jesus Christus war kein Pazifist im heutigen Sinne. Wo immer er auftritt, brechen Konflikte auf und das weltliche und geistliche Establishment gerät in Unruhe. „Glaubt nicht, dass ich für Frieden sorge. Ich bringe den Kampf“, sagt Jesus auch heute noch, denn er hat uns ja bei seiner Himmelfahrt versprochen, alle Zeit bei uns zu bleiben.
Markus Spieker fragt auch nach dem tieferen Sinn des Ausspruchs „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört.“ Statt einer staatsgläubigen Anwandlung unseres Erlösers vermutet Spieker dahinter folgenden Sinn: „Gebt Gott Euch selbst. Und lasst dem Kaiser sein lächerliches Spielgeld.“ Das würde auch punktgenau zum heutigen Geldsozialismus passen.
Doch zurück zum Thema Liebe. Der Tod Jesu am Kreuz ist die am besten belegte Tatsache der Bibel. Damit hat Jesus den Sieg der Liebe über den Tod errungen. Markus Spieker schreibt: „Man kann seiner (Jesu) Liebe nicht auf die Spur kommen, indem man den Kreuzestod buchhalter-technisch gegen unsere Schuld aufrechnet. Man kann sie nur in dankbarem Staunen annehmen. (…) Gott handelt, statt zu erklären. In die Irre gehen alle intellektuellen Ansätze, die das Böse als evolutionsbedingten Kollateraleffekt verharmlosen. (…) Der Teufel schafft nur Schmerz, Leere, Tod, eben das, wovon Jesus uns erlöst. (…) Gott erwartet keine Gegenleistung. Er will nur unser ‚Ja‘ zu dem Liebesbund, den er uns anbietet.“ Es ist uns Menschen kaum möglich, ein Gefühl inniger Liebe für den übermächtigen Schöpfer des Weltalls zu entwickeln. Der Mann am Kreuz jedoch spricht direkt unser Herz an. Doch ohne Jesu leibliche Auferstehung nach drei Tagen im Grab wäre der christliche Glaube nichts als Selbstbetrug. Wir wären nicht von unserer Schuld befreit.
Vierzig Tage nach seiner Auferstehung macht Jesus sich gen Himmel davon. Doch zehn Tage später geschieht das Pfingstwunder. In Form von Feuerzungen kommt der Heilige Geist über die Jünger Jesu. Markus Spieker schildert in moderner Sprache, was das bei dem bis dahin wankelmütigen Petrus bewirkte: „Petrus ergreift das Wort. Er ist völlig verwandelt. Schluss mit Schwanken, Schunkeln, Stolpern. Der Fels rockt. Nun endlich ist er das Schwergewicht, zu dem Jesus ihn erklärt hat. Der frühere Dampfplauderer hält eine Rede. Und was für eine! Es ist die folgenschwerste Predigt der Kirchengeschichte.“ So beginnt das 2000-jährige Abenteuer der weltweiten Verbreitung der christlichen Liebesbotschaft. In der Folgezeit bediente sich Gott noch öfters zweifelhafter Gestalten, um sein Liebesanliegen voranzubringen. Markus Spieker drückt das so aus: „Gott mutet seinen Auserwählten mehr zu, als ihnen lieb ist. Und er wählt Segensträger, die jeder Personalvermittler nur mit spitzen Fingern anfassen würde.“ Wer denkt da nicht an Donald Trump?
Der Rolle der Frauen bei der Verbreitung der christlichen Liebesbotschaft widmet Spieker ein eigenes Unterkapitel. Es geht dabei nicht nur um die Frauen, die Jesus bis zum Tod am Kreuz begleiteten und als erste dessen leeres Grab bezeugten, sondern auch um etliche namentlich bekannte Frauen, die den Aposteln bei der Verbreitung der frohen Botschaft halfen. Die christlichen Gemeinden hoben sich von Anfang an von der römischen Macho-Kultur ab, weil Frauen in ihnen vollwertige Mitglieder sein konnten. Anders als feministische Legenden behaupten, erwiesen sich die Apostel als Frauenförderer. Das trifft insbesondere für den Apostel Paulus zu, dem zu Unrecht Misogynie nachgesagt wird. Einige seiner Kolleginnen werden in der Apostelgeschichte hervorgehoben: So die Purpurhändlerin Lydia, die Paulus finanziell und organisatorisch unterstützte, oder Phöbe, die den berühmten Paulus-Brief an die Römer nach Rom brachte.
Von der jüdischstämmigen französischen Philosophin und Widerstandskämpferin Simone Weil stammt die Idee, dass die Bibel auch als Einführung in die Anthropologie gelesen werden kann. Markus Spieker sieht das so: „Die anthropologische Klugheit der Bibel zeigt sich daran, dass sie die Welt erzählt und nicht analysiert.“ Simone Weil selbst kam durch eine persönliche Begegnung zu Jesus. Beim Lesen des Liebesgedichtes eines Pfarrers und Poeten aus dem 17. Jahrhundert fühlte sie, wie Jesus auf sie zutrat. Simone Weil ließ sich aber nicht taufen, weil sie sich am bürokratischen Kirchenpatriotismus störte. Ihre Erfahrungen zeigen, dass der Zugang zu Jesus nur individuell erfolgen kann. Bei den Urchristen gab es deshalb keine Massentaufen. Kandidaten (Katechumenen) mussten sich Jahre lang auf die Taufe vorbereiten. Auch in späteren Jahrhunderten fanden große Gelehrte und Schriftsteller wie etwa der Franzose Blaise Pascal, der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein oder der zunächst links engagierte deutsche Schriftsteller Alfred Döblin durch persönliche Begegnung mit Christus zum Glauben. Alfred Döblin erntete dafür nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil nur Spott. Damit müssen echte Nachfolger Christi auch heute leben.
Das Fazit des Autors: „Die Verbindung aus christlichem Barmherzigkeitsethos. Römischen Verwaltungsgeschick und griechischer Innovationsfreude erwies sich als historische ‚Killer-Kombination‘. Aber es war der christliche Beitrag, der die Freiheitsräume entscheidend erweiterte, der die Wertigkeit des Individuums heraufsetzte, der eine Kultur des Mitleidens und der potentiell grenzenlosen Solidarität schuf.“ Diese Geschichte im Einzelnen nachzuvollziehen überlasse ich den Lesern, denen ich durch meine kurze Einführung hoffentlich die Scheu genommen habe, sich in einen 1.000 Seiten dicken Wälzer zu vertiefen.
Markus Spieker: Jesus. Eine Weltgeschichte. Fontis Verlag Basel 2020. 1.000 Seiten. € 30,-