Papst Benedikt XVI. hatte vor 10 Jahren leider recht
Edgar L. Gärtner
Demnächst könnten wir den 10. Jahrestag der denkwürdigen, aber im Politikbetrieb dennoch bald wieder verdrängten ersten Rede eines römisch-katholischen Papstes vor dem Deutschen Bundestag feiern. Am 22. September 2011 gab der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) Papst Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger) während dessen offiziellem Deutschlandbesuch die Gelegenheit, vor dem Deutschen Bundestag zu sprechen. Der Papst hielt dort einen hochgelehrten, aber dennoch gemeinverständlichen Vortrag über ein Thema, das kaum jemand erwartet hatte: die Bedeutung des Naturrechts.
Benedikt XVI. mahnte die Politiker, sich nicht an vordergründigen Erfolgskriterien, sondern am überzeitlichen Maßstab der Gerechtigkeit zu orientieren und die Grundsätze eines Rechtsstaats zu respektieren, indem er aus dem Alterswerk des heiligen Augustinus „De civitate Dei“ zitierte: „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande.“ Diese Mahnung konnte angesichts wiederholter Rechtsbrüche des Merkel-Regimes beim Versuch der EU-Nomenklatura, ihre Kunstwährung Euro durch direkte und indirekte Enteignung der Sparer zu retten, aktueller nicht sein. Inzwischen ist eine ganze Kette weiterer Rechtsbrüche hinzu gekommen: Von der Weigerung Angela Merkels, die nationalen Grenzen gegen den Ansturm junger männlicher Migranten zu schützen, bis zur Ausrufung einer „pandemischen Lage von nationaler Tragweite“ ohne Faktengrundlage. Der berechenbare Rechtsstaat wurde so durch einen launischen Maßnahmen-Staat ersetzt, in dem Angst und Willkür herrschen: So konnte die Kanzlerin mithilfe ihrer Helfershelfer in den Massenmedien fernmündlich die Wahl eines Ministerpräsidenten rückgängig machen, kraft eines als Ermächtigungsgesetz interpretierten Infektionsschutzgesetzes den größten Teil des Volkes einsperren, die Menschen in erpresserischer Manier zu der durchaus nicht alternativlosen gentechnischen Covid-Impfung drängen und schließlich das Bundesverfassungsgericht mithilfe seiner infantilen Urteilsbegründung zum Klima-Gesetz in den Dienst eines öko-diktatorischen Umsturzversuchs stellen. Da drängt sich der Vergleich mit einer Räuberbande tatsächlich auf.
Das Recht gründe in einem Rechtsstaat nicht primär in mehr oder weniger zufälligen und ephemeren politischen Mehrheiten, sondern in Natur und Vernunft, betonte Papst Benedikt im Jahre 2011. Im Gegensatz zum heidnischen Götterglauben betrachte das Christentum Natur und Gewissen als universale Rechtsquellen. Das gelte freilich nur, wenn man nicht von einem positivistischen Naturbegriff ausgehe. Die Ökologiebewegung fordere zwar, auf die „Sprache der Natur zu hören und entsprechend zu antworten.“ Es gebe jedoch auch eine menschliche Natur und somit auch eine Ökologie des Menschen: „Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann… Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur achtet, sie hört…Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche Freiheit.“ Deutlicher hätte Benedikt XVI. marxistische beziehungsweise ökologistische oder genderistische Umerziehungsexperimente nicht zurückweisen können.
Das Naturgesetz besitzt also nicht nur eine „naturale“, sondern auch eine personale Struktur, es folgt einem Willen. Papst Benedikt erwähnte, dass auch der Rechtsphilosoph Hans Kelsen (1881-1973), der bekannteste und inzwischen dennoch fast vergessene Vertreter des Rechtspositivismus, im Alter von 84 Jahren dieser Einsicht auf die Spur kam, wenngleich er deren Konsequenzen zurückwies. Da Normen nur aus einem Willen kommen können, bemerkte Kelsen im Jahre 1965, könne die Natur nur dann Normen enthalten, wenn ihr Schöpfer diese in sie hineingelegt hätte. Darüber zu diskutieren, hielt der greise Staatsrechtler aber für völlig aussichtslos.
Führende Quantenphysiker wie vor allem Carl Friedrich von Weizsäcker (1912-2007) und sein Schüler Thomas Görnitz (*1943) sahen beziehungsweise sehen das freilich ganz anders. Am Anfang der Kausalkette stehen bei ihnen nicht Ur-Teilchen oder eine Ur-Kraft, sondern ein Wille, genannt Quanteninformation. Nur dem göttlichen Willen ist es danach zu verdanken, dass beim „Urknall“ vor schätzungsweise 14 Milliarden Jahren nicht ebenso viel Antimaterie wie Materie, das heißt das Nichts entstanden ist. Das Universum wird durch Information gesteuert. Es ist ein intelligent gestalteter Prozess, in dem sich Elementarteilchen ohne zeitliche Verzögerung, das heißt mit unendlich großer Geschwindigkeit gegenseitig beeinflussen können. Diese zunächst nur theoretisch postulierte Verschränkung und Nichtlokalität wird inzwischen bereits für Experimente mit dem Ziel des (abhörsicheren) „Beamens“ (Teleportierens) von Information genutzt. Die experimentell überprüfbare Tatsache der Verschränkung erklärt, wie Phänomene, die in der sinnlich erfahrbaren Raumzeit getrennt sind, auf gemeinsame Wurzeln außerhalb der Raumzeit zurückgehen können.
Während sich Lebewesen voneinander abgrenzen müssen, gilt das nicht für das Bewusstsein. Das legt die Schlussfolgerung nahe, dass das Universum als Ganzes Bewusstsein, den kosmischen Logos besitzt. Unser Hirn produziert nicht Bewusstsein, sondern empfängt Botschaften des kosmischen Bewusstseins und nimmt somit an Prozessen teil, die unserem raumzeitlichen Denken nicht zugänglich sind. Der Mensch als Einheit von Bewusstsein und Leib ist über das Verschränkungsprinzip mit dem ganzen Universum verbunden. Das soll nicht als naturwissenschaftlicher „Gottesbeweis“ missverstanden werden. Eines solchen bedürfen gläubige Christen gar nicht, weil Gott sich uns Menschen in Gestalt Jesu Christi offenbart hat. Es geht vielmehr um das dem Naturrecht zugrunde liegende Menschenbild, das auch von Liberalen geteilt werden kann.
Die Lehre vom Naturrecht gilt heute als Alleinstellungsmerkmal des Katholizismus, wenn nicht als katholische Marotte. Manche sprechen gar von einer „katholischen Scharia“, weil die Vertreter der Naturrechtslehre darauf bestanden, die Natur enthalte Normen, die der Schöpfergott in sie hineingelegt hat. Moderne und postmoderne Autoren werfen dem führenden scholastischen Philosophen Thomas von Aquin (1225-1274) vor, im mittelalterlichen Universalienstreit einen naiven Realismus verfochten und zwischen Sein und Sollen kurzgeschlossen zu haben. In der Ablehnung dieses „naturalistischen Fehlschlusses“ waren sich verschiedene philosophische Schulen seit David Hume (1711-1776) einig. Besonders toll treiben es die Grünen, die sich bei jeder Gelegenheit auf die Natur berufen, das Naturrecht aber ablehnen. Auch die katholische Kirche verzichtete im 20. Jahrhundert und insbesondere nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) leider mehr und mehr auf die Verteidigung der thomistischen Lehre und überließ so dem Positivismus (einschließlich des Rechtspositivismus) das Feld.
Immerhin hatten sich Ankläger und Richter bei dem im November 1945 eröffneten Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess gefragt, nach welchem Recht man die angeklagten Nazi-Größen richten könne, da diese sich doch im Prinzip gesetzestreu verhalten hatten – nur eben entsprechend unmenschlichen Gesetzen. Bei der Definition des Anklagepunkts „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ erinnerten sich die Juristen schließlich des rechtsphilosophischen Gedankens eines vorstaatlichen Naturrechts, das auch ohne kodifiziertes Recht existiert. Die Ankläger beriefen sich also auf die Vorstellung, dass jedem Menschen, der ein Verbrechen wie Mord oder Versklavung begeht, bewusst ist, dass er damit Unrecht tut, selbst wenn dies nicht in einem Gesetz steht. Der eigentlich vom Rechtspositivismus überzeugte sozialdemokratische Rechtsphilosoph Gustav Radbruch (1878-1949) hat das 1946 in einer Formel festgehalten, die seinen Namen trägt. Benedikt XVI. berief sich in seiner Rede vor dem Bundestag hingegen auf den Römerbrief des Apostels Paulus, in dem es heißt: „Wenn Heiden, die das Gesetz (die Tora Israels) nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie…sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab…“ (Röm. 2,14f.)
Man muss also nicht katholisch sein, um sich auf das Naturrecht zu berufen. Das dem Naturrecht zugrunde liegende Menschenbild kann auch von nichtchristlichen Kulturen geteilt werden. Danach gibt es eine vom Naturganzen abhängige Natur des Menschen, die nicht Objekt politischer Manipulation werden kann und darf. Der (immerhin getaufte) Atheist Albert Camus (1913-1960) konnte sich bei seiner Ablehnung des marxistischen Traums vom „neuen Menschen“ und seinem Insistieren auf der Unwandelbarkeit der menschlichen Natur in seiner Abhandlung „L’homme révolté“ (Der Mensch in der Revolte) voll und ganz auf die griechische Philosophie berufen, zumal sich auch die katholischen Theologen in dieser Frage auf die Seite der altgriechischen Philosophie schlugen: Grundlage eines freiheitlichen Gemeinwesens kann nur die Anerkennung der vom Schöpfer gewollten Natur des Menschen sein. Benedikt XVI. hat das in seiner (in Teilen umstrittenen, weil nicht gänzlich aus seiner Feder stammenden) Enzyklika „Caritas in veritate“ (2009) mit folgenden Worten ausgedrückt: „In allen Kulturen gibt es besondere und vielfältige ethische Übereinstimmungen, die Ausdruck derselben, vom Schöpfer gewollten Natur sind und die von der ethischen Weisheit der Menschheit Naturrecht genannt wird. Ein solches universales Sittengesetz ist die feste Grundlage eines jeden kulturellen, religiösen und politischen Dialogs und erlaubt dem vielfältigen Pluralismus der verschiedenen Kulturen, sich nicht von der gemeinsamen Suche nach dem Wahren und Guten und nach Gott zu lösen. Die Zustimmung zu diesem in die Herzen eingeschriebenen Gesetz ist daher die Voraussetzung für jede konstruktive soziale Zusammenarbeit.“ Für das „in die Herzen eingeschriebene Gesetz“ verwenden wir heute den Begriff „Rechtsempfinden“. Dieses hat, wie wir inzwischen annehmen müssen, eine genetische Grundlage.
Gäbe es nur das allen Menschen gemeinsame Rechtsempfinden, wäre die Welt wohl ein Paradies. Sie ist es aber nicht. Denn auch das Böse, genannt Teufel oder Satan, existiert. Heute gilt es bei einflussreichen Medienleuten geradezu als chic, dessen Existenz zu leugnen. Ich vermute demgegenüber, dass zum Beispiel unserem Noch-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn das Rechtsempfinden fehlt. Auch wenn Papst Benedikt dem Bösen in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag keinen eigenen Abschnitt widmete, ging er unausgesprochen von dessen Existenz aus. Denn er schloss mit folgendem Wunsch: „Dem jungen König Salomon ist in der Stunde seiner Amtsübernehme eine Bitte freigestellt worden. Wie wäre es, wenn uns, den Gesetzgebern von heute, eine Bitte freigestellt würde? Was würden wir erbitten? Ich denke, auch heute könnten wir letztlich nichts anderes wünschen als ein hörendes Herz – die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und so wahres Recht zu setzen, der Gerechtigkeit zu dienen und dem Frieden.“
Was Papst Benedikt XVI. hier anspricht, ist die Gabe der Unterscheidung der Geister, das heißt die Fähigkeit zu erkennen, ob bestimmte Gedanken, Gefühlsregungen oder Prophetien von Gott stammen oder von dessen Widersacher. Wäre zum Beispiel der wichtigste Pflanzennährstoff Kohlenstoffdioxid eine Gefahr für das Leben auf der Erde, dann müsste die Welt vom Teufel erschaffen worden sein. Gnostische Häretiker haben das tatsächlich geglaubt. Ich halte mich dagegen lieber an die frohe Botschaft des Neuen Testaments.
(Die Zitate Benedikts XVI. stammen aus dem Buch: Benedikt XVI.: In Gott ist unsere Zukunft. Ansprachen & Predigten während seines Besuchs in Deutschland. St. Benno-Verlag, Leipzig)
(veröffentlicht am 22. August 2021 bei EIKE und am 27. August 2021 im „European“)