Edgar L. Gärtner
Die Mehrheit meiner Zeitgenossen scheint Dummheit für ein fundamentales Menschenrecht zu halten. Ich selbst halte Dummheit (wie Neid) für eine schwere Sünde – in der Tendenz sogar für eine Sünde wider den Heiligen Geist. Bekanntlich gibt es für solche Sünden nach der Bibel keine Vergebung. Bei Matthäus 12,31 heißt es: „Sogar, wer den Menschensohn beschimpft, kann Vergebung finden. Wer aber den Heiligen Geist beleidigt, wird niemals Vergebung finden, weder in dieser Welt noch in der kommenden.“ Es fällt überdies auf, das Jesus, der unverschuldet in Not geratenen Menschen jede nur erdenkliche Hilfe zukommen ließ und sogar am Sabbat Kranke heilte, im Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen (Matthäus 24,25) kein Wort des Bedauerns oder Mitleids gegenüber den leer ausgegangenen findet.
Vermutlich würde es Jesus heute bei Menschen, die ihre Ersparnisse und ihre soziale Sicherung freiwillig dem Staat anvertrauen oder um der Einhaltung eines Temperaturmittelwertes willen Freiheit, Würde und Wohlstand opfern, ebenso halten. Er wusste, dass der Dummheit gegenüber Nachsicht völlig unangebracht ist. Nur wenn sie körperliche Schmerzen erleiden und teures Lehrgeld bezahlen, erlangen die Dummen eine Chance, zur Vernunft zu kommen, sich aus den Fängen eines von politisch Mächtigen in die Welt gesetzten Aberglaubens zu befreien. Der blitzgescheite Theologe Dietrich Bonhoeffer, bekannt geworden durch seinen durchaus nicht unwirksamen Widerstand gegen die Nazis, hat in seinen Gefängnisaufzeichnungen sehr gut auf den Punkt gebracht, warum Dummheit gefährlicher ist als Bosheit: „Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse läßt sich protestieren, es läßt sich bloßstellen, es läßt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurückläßt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt läßt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch -, und wenn sie unausweichlich sind, können sie einfach als nichtssagende Einzelfälle beiseite geschoben werden. Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden; ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht. Daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen.“
Es ist freilich nicht ratsam, Menschen geradeaus ins Gesicht zu sagen, dass sie dumm sind. Das wäre Lernprozessen wohl nicht förderlich. Es ist fast unmöglich, einem Dummen klar zu machen, dass er dumm ist. Friedrich Nietzsche kam denn auch auf die geniale Idee, statt von Dummheit von Nihilismus zu reden. Nihilismus ist seinem Wesen nach Dummheit, die sich als Tiefsinn ausgibt. Wer als Nihilist bezeichnet wird, fühlt sich auch heute noch eher geschmeichelt denn beleidigt. Aber es reicht nicht, den Nihilisten den Spiegel vorzuhalten. Was sie wieder lernen müssen, ist Gottesfurcht. Das bedeutet nicht, den Betroffenen Angst vor einem Rachegott zu machen. In der Regel bestrafen die Dummen sich selbst.
Dietrich Bonhoeffer hat das im Gefängnis mit Worten ausgedrückt, denen nichts hinzugefügt werden braucht: „Daß der Dumme oft bockig ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er nicht selbständig ist. Man spürt es geradezu im Gespräch mit ihm, daß man es gar nicht mit ihm selbst, mit ihm persönlich, sondern mit über ihn mächtig gewordenen Schlagworten, Parolen etc. zu tun hat. Er ist in einem Banne, er ist verblendet, er ist in seinem eigenen Wesen mißbraucht, mißhandelt. (…) Aber es ist gerade hier auch ganz deutlich, daß nicht ein Akt der Belehrung, sondern allein ein Akt der Befreiung die Dummheit überwinden könnte. Dabei wird man sich damit abfinden müssen, daß eine echte innere Befreiung in den allermeisten Fällen erst möglich wird, nachdem die äußere Befreiung vorangegangen ist; bis dahin werden wir auf alle Versuche, den Dummen zu überzeugen, verzichten müssen. In dieser Sachlage wird es übrigens auch begründet sein, daß wir uns unter solchen Umständen vergeblich darum bemühen, zu wissen, was »das Volk« eigentlich denkt, und warum diese Frage für den verantwortlich Denkenden und Handelnden zugleich so überflüssig ist – immer nur unter den gegebenen Umständen. Das Wort der Bibel, daß die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit sei (Psalm 111, 10), sagt, daß die innere Befreiung des Menschen zum verantwortlichen Leben vor Gott die einzige wirkliche Überwindung der Dummheit ist.“
(Neufassung eines vor über 12 Jahren im ef-magazin erschienenen Beitrags)