Zum Krankheitsbild unserer Epoche
Edgar L. Gärtner
Das Jahr 1968 markiert insofern den Beginn einer neuen Epoche, als die Politik seither von selbstverliebten, aber innerlich leeren und von verborgenen Ängsten getriebenen Typen dominiert wird. Zweifelsohne gab es Menschen mit solchen Charaktereigenschaften auch schon früher. Sonst hätte die Legende vom schönen Narziss und dessen schmählichem Ende im antiken Griechenland gar nicht aufkommen können. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die narzisstische Persönlichkeitsstörung im Westen zu einer Massenerscheinung. Der „Spiegel“, damals noch ein lesenswertes Nachrichten-Magazin, warnte in seiner Ausgabe vom 5. August 1979 unter dem Titel „Narzissmus: Das Antlitz der Epoche“ vor der Ausbreitung eines dekadenten Ich-Kults, der zur Gefahr für den Industrie-Standort werden könne. Er verwies dabei auf einen Bestseller des linken amerikanische Historikers Christopher Lasch, der im gleichen Jahr unter dem Titel „The Culture of Narcissism. American Life in an Age of Diminishing Expectations“ bei Norton erschienen war. Hier eine Gratis-Übersetzung im pdf-Format. Als Buch ist die deutsche Übersetzung auch noch verfügbar, aber relativ teuer. In unserem Nachbarland Frankreich gibt es hingegen seit Jahren eine preiswerte Taschenbuchausgabe, die ständig nachgedruckt wird. Diese ist dort zur Bibel der leider an Einfluss verlierenden „orwellschen Linken“ geworden, die sich neben George Orwell auch an Albert Camus orientiert.
Der Narzissmus, eine durch elterliche Erziehungsfehler (zu viel Lob) verursachte Reifestörung, hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Wichtigster Indikator dafür sind ausgefallene Vornamen, die Eltern ihren Kindern geben. Auffällige Neurosen werden hingegen, wie mir ein befreundeter Psychoanalytiker bestätigt, immer seltener. Doch im Unterschied zu Neurosen ist der Narzissmus nur äußerst schwer heilbar, weil Narzissten in der Regel abstreiten, überhaupt einer Therapie zu bedürfen. Die Hauptursache der modernen Geisteskrankheit sah Christopher Lasch in der Ablösung des patriarchalischen durch den matriarchalischen Führungsstil in Politik und Wirtschaft sowie in der damit verbundenen Infantilisierung der Menschen durch eine ausufernde Sozialbürokratie. Narzissten glauben im Grunde an nichts richtig. Sie richten ihre durch enttäuschte Selbstliebe entstandene Aggressivität in Form der obsessiven Beschäftigung mit Krankheit und Tod gegen sich selbst. Sie konzentrieren sich darauf, ihre innere Leere und vagabundierenden Ängste durch moralische Überheblichkeit gegenüber den „Normalos“, durch scheinbar gute Taten oder auch durch hedonistische Genuss- und Ruhmsucht, durch die Kultivierung von Schuldkomplexen und deren Nutzung für die eigene Imagepflege zu überspielen.
Bevor ich fortfahre, ist ein persönliches Geständnis angebracht. Wer mich kennt, weiß dass ich (Jahrgang 1949) nicht nur ein wenig, sondern schon als Abiturient und dann als Biologiestudent voll in der 68er Bewegung engagiert war. Wichtigster Auslöser meines Engagements war der Vietnam-Krieg. Davon zeugen die Bücher, die ich im letzten Jahrhundert in linken Verlagen veröffentlicht habe. Eines davon wurde sogar ins Russische übersetzt. Erst gegen Ende der 1980er Jahre ging ich zunehmend auf Distanz zur linken Bewegung. Für einen Bücherwurm wie mich spielte dabei die Lektüre bestimmter Bücher eine wichtige Rolle. Die Augen öffnete mir die Lektüre von Friedrich August von Hayeks Klassiker „The Road to Serfdom“ von 1944, den ich wegen der leichten Sprache im englischen Original verschlungen habe, sowie der deutschen Übersetzung von Milton Friedmans „Capitalism and Freedom“, erschienen 1976 als preiswertes Taschenbuch bei dtv.
Wenn ich mich hier als Ex-68er zu erkennen gebe, schließt das ein, dass ich auch selbst vom Übel des Narzissmus nicht frei war, obwohl ich in meiner Kindheit nicht verwöhnt wurde. Um davon weg zu kommen, halfen mir die genannten liberalen Klassiker zwar ansatzweise, da die wirklich freie Marktwirtschaft an sich Demut lehrt. Ich musste Demut aber von Grund auf lernen. Dabei halfen mir die Schriften des Theologen Joseph Ratzinger, der im Jahre 2005 zum Papst der römisch-katholischen Kirche gewählt wurde, angefangen mit der „Einführung in das Christentum“ (erstmals erschienen 1968). Im Jahre 2010 entschloss ich mich, zur katholischen Kirche zurückzukehren, erkannte diese dann aber im Vergleich zu meiner Messdienerzeit vor 1968 kaum wieder. Als „Ungeimpfter“ flog ich schließlich in Bad Nauheim aus dem Kirchenchor. Das erklärt meine aktuelle Distanz speziell zum deutschen Katholizismus.
Damit bin ich endlich bei dem aktuellen Buch angelangt, das ich eigentlich besprechen will: „Die Weisheit des Herzens. Wie wir werden, was wir sein wollen“ des katholischen Wiener Neurowissenschaftlers und Psychiaters Raphael M. Bonelli. Der Narzissmus und insbesondere dessen moralische Spielart ist eines der beherrschenden Themen des neuen Bestsellers von Bonelli. Kurz und knapp auf den Punkt gebracht, lautet Bonellis Kernthese: Narzissten leiden nicht nur im übertragenen Sinn, sondern auch physisch an chronischer Herzschwäche. Als Kopfmensch kann ich das nur bestätigen. (Tatsächlich haben Kardiologen bei mir als Folge eines zu hohen Blutdrucks eine Herzschwäche festgestellt, weshalb ich mir Bonellis Buch gleich nach dem Erscheinen anschaffte.) Mit seinem didaktisch klug aufgebauten neuen Buch möchte Bonelli seinen Lesern helfen, ihr Herz im Verhältnis zu dessen Antagonisten Kopf und Bauch zu stärken. Bonelli verdeutlicht das pädagogisch geschickt durch zahlreiche übersichtliche Schaubilder und durch die Schilderung anonymisierter Fallbeispiele aus seiner psychiatrischen Praxis. Weder seinen Patienten noch seinen Lesern drängt Bonelli dabei sein religiöses Engagement auf.
Das Herz ist viel mehr als eine Pumpe, sondern ein komplexes Denk-, Entscheidungs- und Steuerungsorgan. Es ist der Sitz unseres Willens, unseres Charakters, unseres Temperaments und unseres Gewissens. „Der Narzissmus – auch Hochmut genannt – ist die schlimmste Plage, die unser Herz befallen kann“, erklärt Bonelli und vergleicht die Persönlichkeitsstörung beziehungsweise Geisteskrankheit wegen ihrer Zähigkeit mit einer Hydra. „Narzissmus besteht aus der klinischen Trias Selbstidealisierung (das Ich wird im Herzen angebetet und bewundert), Fremdabwertung (alle anderen werden verachtet und herabgewürdigt) und Selbstimmanenz (das Um-Sich-Selbst-Kreisen und nichts Höheres anerkennen. (…) Um das Herz freizubekommen, müssen wir es … zuerst vom Ich reinigen“, führt Bonelli weiter aus und beklagt, dass der Zeitgeist den Egoismus zum Lebensstil erhoben hat und die Social-Media-Kanäle geradezu vor Ich-Bezogenheit strotzen.
Narzissten verraten sich meistens dadurch, dass sie über Abwesende schlecht sprechen oder sich mit scheinbar guten Taten hervortun, die nur dem Zweck dienen, sich andern gegenüber als moralisch höherstehend zu profilieren. Diese Angewohnheit hatte ich mir auch in meiner linken Zeit nicht zu eigen gemacht. Vielleicht war ich gar kein richtiger Narzisst, sondern litt vielleicht eher an einer milden Form von Autismus. Die wird leicht mit Narzissmus verwechselt. Im Unterschied zu Narzissten sind Autisten aber in der Regel keine Egoisten. Wie dem auch sei: Auch wenn es schwer ist, aus dem Teufelskreis des Narzissmus herauszufinden, unmöglich ist es nicht. „Der Mensch (…) hat mit dem Neokortex das Potenzial zur Selbstprägung bekommen, das Potenzial, in sich Ordnung zu verwirklichen – oder eben nicht. Sein Herz kann, ist der Wille richtig ausgerichtet, Bauch und Kopf veredeln. Darin besteht die Freiheit des Menschen“, folgert Bonelli aus den Forschungen des US-amerikanischen Psychiaters und Genetikers Robert Cloninger. Als leuchtendes Beispiel für eine willentliche Umkehr (Metanoia) zitiert Bonelli die von Steven Spielberg verfilmte Geschichte des Unternehmers Oskar Schindler, der sich in kurzer Zeit vom Profiteur der Judenvernichtung zum Retter Tausender von Juden wandelte.
Das wäre schon ein schöner Schluss für meinen bescheidenen Beitrag. Ich möchte aber doch noch, ohne zu viel zu verraten, auf einige starke Passagen des Buches von Bonelli hinweisen. Dazu gehören m.E. Bonellis Ausführungen über das Gewissen und die damit verbundenen Schuldgefühle. Die wurden von den meisten Psychotherapeuten bislang pauschal als krankhaft angesehen. Bonelli fordert dagegen, zwischen gesunden und ungesunden Schuldgefühlen zu unterscheiden. Pathologische Schuldgefühle wie sie bei der Täter-Opfer-Umkehr nach Geiselnahme, häuslicher Gewalt oder sexuellem Missbrauch auftreten, sind in der Tat ein Fall für den Psychiater. Gesunde oder physiologische Schuldgefühle helfen uns hingegen, die Verantwortung für unser Handeln wahrzunehmen und böse Taten aufrichtig zu bereuen. Nur Psychopathen haben niemals Gewissensbisse.
Auch was Bonelli über Werte und Tugenden beziehungsweise ihr Gegenteil, die abhängig machenden Laster schreibt, ist lesenswert. „Man kann sich nicht durch das Denken oder die Erkenntnis allein zum tugendhaften Menschen entwickeln“, mahnt Bonelli. „Im tugendhaften Handeln herrscht Einheit zwischen Kopf, Herz und Bauch. Das Herz kennt seine Werte, hat sie mithilfe des Kopfes geprüft, geordnet und definiert. Und der vom Herzen geprägte Bauch will diese Werte verwirklicht sehen, verspürt Lust, wenn sie verwirklicht werden. Sein Prinzip der Lustmaximierung ist nun auf Werte ausgerichtet, die ihm das Herz vorgibt. Hm bereitet es Lust, die Wahrheit zu sagen, gerecht zu handeln oder sich für andere einzusetzen. Unlust bereiten ihm Lügen, die Ungerechtigkeit und Egoismus.“ Man müsse aber zwischen echten Tugenden und bloßen Konditionierungsreflexen unterscheiden, wie sie das chinesische Social-Kredit-System hervorbringt.
Worauf es letztlich ankommt, ist die „Selbsttranszendenz“ im Sinne des späten Freud-Schülers Viktor Frankl, der es geschafft hat, als Jude Hitlers KZs geistig gesund zu überstehen. Frankl schrieb: „Der grundlegende anthropologische Tatbestand, dass Menschsein immer über sich selbst hinaus auf etwas verweist, das nicht wieder es selbst ist – auf etwas oder auf jemanden: auf einen Sinn. Und nur in dem Maße, in dem der Mensch solcherart sich selbst transzendiert, verwirklicht er auch sich selbst: im Dienst an einer Sache. Ganz er selbst wird er, wo er sich selbst übersieht und vergisst.“ Das könnte auch die von mir verehrte jüdische Mystikerin Simone Weil geschrieben haben. Der scholastische Philosoph Thomas von Aquin sagte: „Dem Weisen ist es eigen, zu ordnen.“ Daran anknüpfend schließt Raphael BonellI: „Die Weisheit des Herzens ist das Wissen um die letzten Zusammenhänge des Seienden und hat eine intuitivere, unmittelbarere und tiefere Einsicht in die Dinge, als die analytische Vernunft es von sich aus vermag. Sie ist kein beliebiges Wissen. Sie weist allen Dingen den Platz zu, der ihnen entsprechend er Rangordnung der Werte zukommt.“ Das ist nun wirklich ein schönes Schlusswort.
Raphael M. Bonelli: Die Weisheit des Herzens. Wie wir werden, was wir sein wollen. Edition a, Wien 2023. Geb. 272 Seiten. € 26,- In Deutschland vertrieben vom Kopp Verlag