Woker Kulturkampf: Den Rückfall in den Tribalismus verhindern



Edgar L. Gärtner
In meiner Besprechung des neuen Buches von Susanne Schröter habe ich bereits darauf hingewiesen, dass die dort vorgelegte Analyse des aktuellen Kulturkampfs zwischen der an den Universitäten dominierenden Woke-Ideologie und dem gesunden Menschenverstand der Bürger Ergänzungen bedarf. Ich dachte dabei eher an den Einfluss des seit 1968 verbreiteten Narzissmus. Eine andere Herangehensweise wählte der in der DDR geborene Journalist Alexander Wendt, der sich offenbar besser in der Geschichte der westlichen Zivilisation auskennt als so mancher Professor, in seinem Buch „Verachtung nach unten“. Selbstverständlich gibt es in seiner Diagnose des Zeitgeistes etliche Parallelen zum Buch Susanne Schröters, die ich hier nicht wiederholen will. Während sich Frau Schröter aber auf das akademische Leben in Deutschland konzentriert, ist die Analyse Alexander Wendts sowohl geografisch breiter als auch historisch tiefer angelegt. Man erfährt hier sehr viel mehr über die Ursprünge der Woke-Bewegung in Nordamerika als auch über die Geschichte der Überwindung der fortschrittsfeindlichen archaischen Stammesgesellschaften durch die griechische, jüdische und römische Rechtsphilosophie.
Die woke Ideologie fußt auf dem Gefühl epistemologischer und moralischer Überlegenheit ihrer Anhänger gegenüber all jenen, die sich die Hände schmutzig machen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. In seiner Verteidigung der europäischen Aufklärung übersieht Alexander Wendt freilich nicht, dass es bei den Aufklärern selbst schon woke Tendenzen gab. Denn etliche von ihnen lästerten über die Rückständigkeit der mittelalterlichen Scholastik, um sich selbst in einem umso vorteilhafteren Licht sonnen zu können. Keiner der „Aufklärer“ konnte aber in Wirklichkeit dem Dominikanermönch Thomas von Aquin (1224 – 1274), der als führender Philosoph der Scholastik gilt, das Wasser reichen. Den „Oberaufklärer“ Immanuel Kant nehme ich dabei aus, weil der schon mit der Überweindung der Aufklärung beschäftigt war.
Deshalb betont gerade Wendt als gebildeter Agnostiker, dass es neben der antiken Rechtsphilosophie die christliche Theologie war, die das Aufkommen des fruchtbaren dialektischen Denkens beziehungsweise der individuellen Mündigkeit und Kritikfähigkeit in Europa gefördert hat. O-Ton Alexander Wendt: „In der Idee, dass Jesus ganz Gott und ganz Mensch ist, und nicht identisch mit dem Schöpfergott, aber auch nicht ohne ihn zu denken, dass er Bote ist, aber auch die Botschaft selbst – darin liegt eine Qualität, die im westlichen Denken schon früh entstand, um sich später zu verfeinern und zu verästeln: die Dialektik.“ (Die viel zitierte moderne Medientheorie Herbert Marshall McLuhans „Das Medium ist die Botschaft“ wurde übrigens direkt durch diesen Glaubenssatz inspiriert.)
Die Geschichte des alles andere als banalen Rechtstitels „Bürger“ seit der athenischen und römischen Antike gehört meines Erachtens zu den interessantesten Passagen der Untersuchung Wendts. Der mit dem Konzept des Individuums und der streng formalisierten Rechtsprechung („In dubio pro reo“) verbundene Bürger-Begriff unterscheidet den Westen von der Welt des Islam und auch vom Hinduismus. Nur im Westen kam es zur Teilung der weltlichen und geistigen Macht. Nur hier konnte eine Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei aufkommen. Umso unverständlicher ist die Tatsache, dass die Wohlgesinnten (Woken) die „Erbschuld“ für Sklaverei, Rassismus und Kolonialismus im weißen Westen verorten.
Völker mit einer Stammes- oder Kastenorganisation kennen den Status des Individuellen, eigenverantwortlichen Bürgers nicht, hassen ihn vielmehr. Die im Stamm geltenden Regeln stehen immer über den Wünschen des Einzelnen. Alexander Wendt schreibt: „Alle Stämme, ob traditionelle oder neu geformte, zeichnen sich durch das gleiche Grundmuster aus. Sie fordern größtmögliche Homogenität nach innen, Abgrenzung nach außen, Unterordnung des Einzelnen unter das Kollektiv. Im Gegenzug bilden sie ein Gemeinschaftsbewusstsein, das Gefühl kollektiver Macht, meist auch den Glauben zumindest an die moralische Überlegenheit der eigenen Gruppe. Die Bindung nach innen verspricht Schutz vor realen und imaginierten Gefahren. Den größten Vorteil dieser Ordnung genießen die Anführer eines Stammes.“
Zum Prototyp einer tribalistischen Bewegung im Westen wurde die Bewegung Black Lives Matter (BLM) in Nordamerika. Man wird kein Dokument finden, in dem sich diese gewaltaffine Bewegung ausdrücklich zum Ziel der Tribalisierung des Westens bekennt. Vielmehr läuft die Umsetzung ihrer Forderungen nach einer Entstaatlichung wie vor allem die Abschaffung der Polizei automatisch auf die Entwicklung einer unfriedlichen Stammesgesellschaft ohne staatliches Gewaltmonopol hinaus. Ähnlich ist das bei den europäischen Kopien dieser Bewegung wie beim Kollektiv „Letzte Generation“ oder auch bei der „Antifa“. Im Widerspruch zu ihren antikapitalistischen Bekenntnissen sind diese Gruppierungen zu Keimzellen eines woken Kapitalismus geworden, der mit rassistischen Argumenten Vorteile für die Farbigen erstreiten will. BLM hat in kurzer Zeit Zig Milliarden Dollar Spendengelder eingenommen. Dabei verkörpert BLM das genaue Gegenteil der erfolgreichen Bürgerrechtsbewegung um den Pastor Martin Luther King. In seiner berühmten Rede „I have a Dream“ vom 28. August 1968 warnte dieser ausdrücklich davor, in den Weißen in erster Linie Träger des Rassismus zu sehen. „Die Tribalisierung führt die westliche Gesellschaft nicht nur zurück in glücklicherweise überwundene Verhältnisse. Sie richtet sich auch dezidiert gegen die Schwächeren. Sie entzieht gerade denjenigen Sicherheit und Stabilität, die sie am meisten brauchen“, betont Alexander Wendt.
Alexander Wendt spricht von einer Verheiratung der Woke-Ideologie mit neuen Management-Konzepten der Plattformen globalisierter Großindustrie, deren Abkürzungen ESG und DIE den Normalsterblichen wenig bis nichts sagen. Die Woken fungieren dabei als Sinn- und Moral-Schöpfer, während die Industriellen für die Finanzierung des woken Aufbruchs sorgen. Diese Symbiose erklärt zu einem großen Teil, warum diese widersprüchliche Ideologie im Westen in so kurzer Zeit die Definitionsmacht erringen konnte. Deshalb ist es bedauerlich, dass Susanne Schröter in ihrem thematisch identischen Buch diesen Zusammenhang überhaupt nicht ansprechen kann.
ESG steht für „Environment, Social and Governance“, DIE für „Diversity, Identity, Equity“. Diesem Ansatz folgt auch die Idee eines „Stakeholder Kapitalismus“, die von Klaus Schwab auf dem Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos verbreitet wurde. In einem Management-Konzept kann ein Nebeneinander verschiedener Ansichten und Traditionen nur stören. Alle Plattformen streben nach dem Monopol. Menschliche Gesellschaften von Bestand sind dagegen ein befriedetes Gefüge aus Traditionen, Sprache, Rechtsauffassungen und beigelegten Kämpfen. Deshalb, so Alexander Wendt, können weder regressiv-progressive Woke-Jünger noch Lenker der Plattform-Ökonomie mit dem Begriff des Bürgers etwas anfangen. Individuen verwandeln sich für sie in Träger einer Gruppenidentität. Diese eint die Überzeugung, alles könne durch Sprechakte geschaffen und umdefiniert werden. Wohin das führen kann, demonstriert Wendt unter anderen an Sam Bankman-Fried, der von einer betrügerischen Krypto-Börse Milliarden in dunkle Kanäle abzweigen konnte. Alexander Wendt erkennt sogar, dass das Tugendgepansche des DIE auf den Protestantismus zurückgeht und deshalb auch heute in Ländern mit einer protestantischen Tradition die meisten Anhänger findet.
Heute steht die Teilung der Macht, die Europas Aufstieg begünstigte, gerade in der EU wieder zur Disposition. In Brüssel und in Strasbourg gibt es keine Opposition, die diesen Namen verdient, da das so genannte Europa-Parlament keine Initiativrechte hat, sondern Vorlagen der EU-Kommission nur absegnen oder ablehnen kann. Die nicht gewählte EU-Kommission selbst spielt die Rolle des für alles und nichts zuständigen Wohlfahrtsausschusses am Ende der französischen Revolution. „Eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften des Westens, die Trennung zwischen Recht und Moral, die sich in einem langen Prozess vom römischen Recht über Rechtsphilosophien wie Christian Thomasius bis zum bürgerlichen Recht des 19. Jahrhunderts herausbildete, steht heute wieder als Ganzes infrage“, mahnt Alexander Wendt.
Im kleinen Schlusskapitel seines gelehrten Buches, das eher wie ein Anhang wirkt, macht sich Wendt einige Gedanken über die Rettung westlicher Gesellschaften vor dem Zerfall in feindlich gegenüber stehende Gruppen. Vorbild ist hier der Westfälische Friede von 1648 nach dem Dreißigjährigen Krieg. Dieser kam zustande, weil keiner der Kriegsparteien die Schuld zugeschoben wurde. Möglich wurde das, weil alle Krieg führenden Mächte gleichermaßen erschöpft waren. Dieser Zustand ist heute allerdings noch nicht erreicht. So bleibt nur der Apell an die Wohlgesinnten, den Kulturkrieg einzustellen.

(Zuerst erschienen am 9. Juni 2024 auf der „Achse des Guten.“)