Die Menschen sind im Grunde gut, aber es gibt das Böse

Im Grunde gut

Edgar L. Gärtner
Es stimmt nicht, dass die Menschen unter Extrembedingungen wie Naturkatastrophen oder Luftkrieg automatisch zu Egoisten, zu „homo homini lupus“ werden, die ihre schlechtesten Eigenschaften hervorkehren. Dieser Ausdruck wurde vom englischen Philosophen und Staatstheoretiker Thomas Hobbes (1588 – 1679) in Anspielung auf die umgekehrte Aussage beim lateinischen Komödiendichter Plautus in die Welt gesetzt. Alle, die die Menschen für grundsätzlich böse halten und deshalb nach einem starken Staat rufen, berufen sich bis heute auf Hobbes und seine Abhandlungen „De Cive“ und „Leviathan“ in denen Hobbes die Erfahrungen des englischen Bürgerkriegs verarbeitet und für die absolute Monarchie Partei nimmt. Hobbes gehört neben Platon und Niccolò Machiavelli noch heute zu den einflussreichsten politischen Denkern.
Doch spätestens seit den Reaktionen der Londoner Bevölkerung gegenüber den Bombardements der Stadt durch Hitlers Luftwaffe bezweifeln immer mehr nachdenkliche Menschen, ob Hobbes generell recht hat. Was damals in London beobachtet wurde, beschreibt der niederländische Publizist Rutger Bregman in seinem im Original 2019 und in deutscher Übersetzung 2020 bei Rowohlt erschienen Buch mit dem Titel „Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit “. Da ich in jedem Buch, das ich lese, notiere, wann genau ich es studiert habe, weiß ich, dass das im April 2022 geschah. Die Sommerpause gibt mir nun Gelegenheit, nach über zwei Jahren des Nachdenkens darauf zurückzukommen.
Hitler dachte, mithilfe des Bomben-Terrors der „Stuka“ die Briten demoralisieren zu können, erreichte aber das Gegenteil, eine Welle der Hilfsbereitschaft und des sozialen Zusammenhalts. Umgekehrt schaffte es auch Bomber Harris nicht, die Deutschen in die Knie zu zwingen, sondern stärkte ihre Solidarität. Bregman erklärt das nicht mit der Ideologiegläubigkeit, sondern mit dem starken Kameradschaftsgeist der Deutschen. Überhaupt scheint nach Bregman in der frühen Entwicklung des Menschen als Jäger und Sammler weniger die physische Kraft ausschlaggebend gewesen zu sein als vielmehr seine Freundlichkeit – auch gegenüber Fremden. Mit Muskelkraft konnte Homo sapiens im Vergleich zu seinen nächsten tierischen Verwandten ohnehin nicht prahlen. Wäre es darauf angekommen, wären wir als Organismenart längst schon wieder ausgestorben. Die hohe Intelligenz, mit der er seine physische Schwäche wettmacht, sei ein „Beifang der Freundlichkeit“, sagt Bregmann. Das gelte auch für die besten Freunde der Menschen, die Hunde.
Ich hege den Verdacht, dass die Möchtegern-Weltlenker vom WEF sich solcher Auffassungen bedienen wollen, um dem Widerstand der arbeitenden Menschen gegen die begonnene große Umverteilung von unten nach oben zu brechen, zumal sich Bregman wie Klaus Schwab auf Yuval Noah Hararis „Kurze Geschichte der Menschheit“ berufen. Ich vermute: Da die „Klimakrise“, weil abstrakt, immer weniger Menschen wirklich Angst macht, haben das WEF und die Weltgesundheitsorganisation WHO die Covid-19-Pandemie erfunden, um unter den ansonsten zerstrittenen Menschen eine Welle der Solidarisierung zu provozieren.
Auffälligstes Zeichen der sozialen Fähigkeiten der Menschen, sagt Bregman, sei ihre unwillkürliche Reaktion des Errötens. Diese zeige, dass wir etwas darauf geben, was andere von uns denken. Nur die kleine Minderheit von Psychopathen, die in der großen Politik wohl die Mehrheit bildet, errötet nicht oder hat sich die Reaktion abtrainiert. Nicht das „egoistische Gen“ habe die Menschen die letzte Eiszeit überstehen lassen, sondern ihre im Vergleich zu den Neandertalern bessere Fähigkeit zur Zusammenarbeit sowohl in der Nähe als auch über weite Entfernungen. Das ist nicht neu. Wichtige Argumente gegen das Hobbessche Menschenbild lieferte der amerikanische Historiker Colonel Samuel Marshall bei Beobachtungen aus nächster Nähe im Pazifikkrieg gegen die Japaner. Selbst in den hitzigsten Gefechten mit dem Feind machten nur etwa 20 Prozent der Gis von ihrer Schusswaffe Gebrauch. Die anderen wurden durch eine tief sitzende Tötungshemmung daran gehindert, das zu tun.
Weitere Argumente gegen das Hobbessche Menschenbild bringt Rutger Bregman in der Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Geografen Jared Diamond, der in seinem 2005 auf Deutsch erschienenen Kolossal-Bestseller „Kollaps“ die kolonialistische Legende vom suizidalen Aussterben der Kultur der Osterinsel nachbetet. (Ich habe mir seinerzeit bei einer Diskussionsveranstaltung im Frankfurter Senckenberg-Museum selbst ein heftiges Wortgefecht mit Diamond geliefert.) Die Legende behauptet, dass die polynesischen Siedler auf der kleinen Tausende Kilometer von Kontinenten abgelegenen Insel durch Waldrodung, Hungersnot und Kannibalismus ihre eigenen Lebensgrundlagen vernichteten. In Wirklichkeit erhöhte die Zerstörung der Wälder durch Massenvermehrung der polynesischen Ratte, wie wir heute wissen, die landwirtschaftliche Produktivität sogar. Die meisten Inselbewohner wurden im 19. Jahrhundert Opfer des Sklavenhandels und der von Weißen eingeschleppten Pocken.
Es waren aber nicht nur die einflussreichen Schriften von Thomas Hobbes, sondern mehr noch die pseudowissenschaftlichen Abhandlungen des englischen Landgeistlichen und Ökonomen Thomas Robert Malthus (1766 – 1834), die die Menschen bei der Suche nach den Ursachen von Not und Elend mit der Warnung vor der „Bevölkerungsexplosion“ auf eine falsche Fährte führten, indem sie autoritäre Austeritäts-Regimes als alternativlos darstellten. Malthus kommt in dem ansonsten klugen und diskussionswürdigen Buch von Rutger Bregman aber leider gar nicht vor – wohl weil er noch immer als Klassiker der Nationalökonomie gilt. So wurden auch die Modernisierung der malthusianistischen Bevölkerungstheorie in Form der vom „Club of Rome“ verbreiteten Computersimulation der Ressourcenerschöpfung mit dem Titel „Die Grenzen des Wachstum“ (1972) wie auch die darauf aufbauenden Computersimulationen des drohenden Klima-Kollapses bislang nur von einer Minderheit kritisch hinterfragt. Bei der politischen Linken, zu der sich Bregman offen bekennt, gelten diese Studien noch immer über jeden Verdacht erhaben.
Bregman setzt sich ausführlich mit den viel zitierten Forschungen von Stanley Milgram und Philip Zimbardo auseinander, um zu zeigen, wie Menschen trotz ihrer grundsätzlichen Gutmütigkeit zu Mördern werden können. Wie die deutsche Jüdin Hannah Arendt, die ebenfalls von grundsätzlichen Gutsein der Menschen ausging, kommt er zum Schluss, dass sich das Böse nur im Gewand des Guten durchsetzen kann. Milgram und Zimbardo hatten hingegen böse Taten durch die Gedankenlosigkeit von Konformisten zu erklären versucht. Zu verstehen, warum grundsätzlich gutmütige Menschen abscheuliche Taten begehen können, erfordert dagegen einen viel größeren argumentativen Aufwand. Wir Menschen hegen einen natürlichen Abscheu vor herrischen Anordnungen. Deshalb bedarf es der Kommunikation scheinbar guter Ziele, um Menschen zu Gewalttaten zu bewegen. So fand man bis heute keinen formellen Befehl Hitlers zur „Endlösung“ der Judenfrage. Die überwiegend subalternen NS-Größen, die sich in der berüchtigten Wannsee-Konferenz versammelten, arbeiteten Hitler ohne formellen Befehl aus eigenem Antrieb zu, weil sie überzeugt waren, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.
Kürzlich gab es in der deutschen Presse anlässlich der unvorsichtigen Aussage des AfD-Politikers Maximilian Krah, manche SS-Leute hätten aus idealistischen Motiven gehandelt, eine heftige Polemik. Ich vermute, Hannah Arendt hätte Krah recht gegeben. Auch ich selbst konnte mich nie anfreunden mit der Vorstellung, es habe in Mitteleuropa vor 80 Jahren Millionen von Psychopathen gegeben. Ich zögere gewöhnlich, große Gruppen von Menschen zu dämonisieren. Mein grundsätzliches Vertrauen in das Menschengeschlecht hat mich sogar zum Opfer eines großen Betrugs werden lassen. Ich werde für die Betrüger beten, anstatt meinem verlorenen Geld lange nachzutrauern. Das würde mich ohnehin von meinen derzeitigen Lieblingsbeschäftigungen Lesen, Nachdenken und Schlafen abhalten.
Als die Menschen vor etwa 10.000 Jahren aufhörten, sich mit Jagen und Sammeln zu begnügen und zu Ackerbau und Viehzucht übergingen, sind sie sozusagen mit dem falschen Fuß in die Geschichte eingetreten. Im Christentum gilt dieser Schritt zu Recht als Ur- oder Erbsünde. Die Menschen konnten das viel beschwerlichere (und konfliktreichere) Dasein als Bauern nach der Theorie des bekannten Psychiaters Hans-Joachim Maaz nur ertragen, indem sie sich in ein falsches, das heißt kriegerisches Selbst auf der Grundlage der Verteidigung des künstlichen Privateigentums flüchten. Höhlenzeichnungen und die Ruinen befestigter Siedlungen geben Zeugnis von diesem Umbruch.
Der Versuch zur Rückkehr zum Jäger- und Sammler-Paradies, den das WEF mit dem Spruch „Du wirst nichts besitzen und glücklich sein“ nahelegt, wäre allerdings nur um den Preis von Milliarden von Menschenleben zu haben. Einen anderen, wenn auch nicht unbedingt bequemeren Weg weisen die Gebote der jüdischen und christlichen Religion, angefangen vom universellen Liebesgebot. Diese zeigen, wie auch auf der Verteidigung des Privateigentums fußende Gesellschaften zum Frieden gelangen können. Nach dem Römerbrief des Apostels Paulus müssen wir davon ausgehen, dass es so etwas gibt wie eine angeborene Moral, die auch den Heiden ins Herz geschrieben ist. Zu dieser klaren Schlussfolgerung ringt Rutger Bregman sich allerdings nicht durch. Dennoch ist das Buch für mich eines der anregendsten, die ich in den letzten Jahren gelesen habe.