Abgesang auf die westliche Vorherrschaft von einem französischen Historiker
Edgar L. Gärtner
„Der Fall des Westens wird nicht durch einen russischen Sieg, sondern durch einen Zerfall der USA von innen heraus erfolgen. Einen Krieg des Westens im Tiefland der Ukraine, weniger als 1.000 Kilometer von Moskau entfernt, zu unterstützen, bedeutet für Deutschland also nicht, endlich auf der richtigen, sondern erneut…auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen.“ Das schreibt der bekannte Historiker und Anthropologe Emmanuel Todd im aktuellen Geleitwort zur deutschen Übersetzung seines jüngsten Buches „Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall“. Starker Tobak für alle, die noch immer davon überzeugt sind, dass die Lösung der wichtigsten Menschheitsprobleme von der Verbreitung der liberalen Demokratie nach US-Vorbild über die ganze Welt abhängt.
Der Bestseller-Autor Emmanuel Todd, ein mit dem berühmten Anthropologen Claude Levi-Strauss verwandter Intellektueller multinationaler und teilweise jüdischer Herkunft, glaubt nicht an diese märchenhafte Weltsicht. Mit dem schottischen Aufklärer Adam Ferguson ist er davon überzeugt, dass es selbst auf der kleinsten Insel zwei Bevölkerungsgruppen mit einander widersprechenden Interessen geben wird. Wer die legitime Existenz eines Anderen nicht anerkennen könne, höre auf, er selbst zu sein. Das „Andere“ für den heutigen Westen ist, so Todd, die erstaunliche Stabilität des „System Putin“ in Russland. Harte westliche Wirtschaftssanktionen, die dieses System nach der russischen Invasion ins ehemalige Bruderland Ukraine in die Knie zwingen sollten, haben vor allem den EU-Ländern mehr geschadet als dem Angreifer.
Was ist Nihilismus?
Die Ukraine galt zum Beginn der Putin‘schen „Spezial-Operation“ im Februar 2022 auch bei vielen im Westen als „failed state“, ihr Geschäftsmodell der Leihmutterschaft für westliche Millionäre wurde als „Zeichen sozialen Verfalls“ interpretiert. Todd bezeichnet es als „Synthese aus Neoliberalismus und Sowjetismus“. Die Ukraine ist für Todd „kein Staat im eigentlichen Sinn, sondern eine von Washington finanzierte militärisch-polizeiliche Organisation“, in der Pluralismus keinen Platz hat. In der ultranationalistischen bzw. anomischen „Elite“ der Ukraine, deren staatstragende russisch oder jiddisch sprechende Mittelschicht zum großen Zeil längst ausgewandert ist, werde der Krieg um des Krieges willen zum wichtigsten Lebensinhalt. Um diese Zustände soziologisch und anthropologisch zu charakterisieren, benutzt Todd den Begriff des Nihilismus. Dieser bezeichnet die Leugnung der Realität bzw. die Abschaffung des Wahrheitsbegriffs. Als typisches Beispiel für die nihilistische Denkweise zitiert Todd den Glauben, man könne einen Mann mit XY-Chromosom in eine Frau mit XX-Chromosom umwandeln. Der Realitätsverlust sei besonders stark bei Fragen der Demografie und der Geopolitik. In der Ukraine werde nicht die liberale Demokratie gegen die russische bzw. Putin‘sche Autokratie verteidigt, sondern die liberale Oligarchie des Westens gegen die autoritäre russische Demokratie, behauptet Todd. Die Volksrepublik China sei hingegen eindeutig keine Demokratie.
In Russland hat Putin die Oligarchen entmachtet. Im Westen hingegen agiert die erstarkte Oligarchie ohne religiösen oder sonst wie transzendenten strategischen Kompass beziehungsweise ein „Über-Ich“, das heißt chaotisch – und gelangt denn auch seit Jahrzehnten nicht nur in der Außenpolitik zu überwiegend kontraproduktiven Resultaten. Als nicht religiöser Mensch geht Todd nicht auf die Entwicklung theologischer Dogmatik ein, sondern hält sich, da er lange an einem demografischen Institut geforscht hat, an messbare Indikatoren. Solche Indikatoren für den „christlichen Nullzustand“ des Westens sind für ihn das Verschwinden der Taufe und ein massiver Anstieg von Feuerbestattungen. Da der Einzelne nur in einer Gemeinschaft wachsen könne, sei er nun zum Schrumpfen verdammt.
Die NATO dient der Überwachung der irreparablen EU
Besonders deutlich werde das in der Entwicklung des Verhältnisses der EU zur NATO und zu den USA. Die Achse Berlin-Paris sei durch die von Washington gesteuerte Achse London-Warschau-Kiew verdrängt worden. Diese Achse werde durch die skandinavischen und baltischen Länder verstärkt. Die NATO diene mehr der Überwachung als dem Schutz Europas. Zwischen 2021 und 2022 ist die Handelsbilanz der Eurozone von positiven 116 auf negative 400 Milliarden Euro gesunken. Todd plädiert dafür, Wladimir Putin beim Wort zu nehmen, anstatt ihn zum unberechenbaren Ungeheuer zu stilisieren. Denn alles spreche bislang dafür, dass er – im für uns Guten wie im Bösen – zu seinem Wort steht. Die Ukraine und ihre Unterstützer kämpfen dafür, die von Russen bevölkerte Halbinsel Krim und den Donbass gegen deren Willen wieder Kiew zu unterstellen. Das hält Todd für aussichtslos. Er sieht darin eher einen kindischen Trotz-Reflex als ein mutiges Aufraffen zum Widerstand gegen den angeblichen russischen Expansionismus.
Russland, das Mühe hat, mit seiner auf 144 Millionen geschrumpften Bevölkerung sein riesiges Territorium von 17 Millionen Quadratkilometern einigermaßen zu erschließen, stelle für Westeuropa keinerlei Bedrohung dar. Weshalb sollte das Land räumlich expandieren wollen? „Russland lebt von seinen natürlichen Ressourcen und von seiner Arbeit, in keiner Weise beabsichtigt es, der Welt seine Werte aufzuoktroyieren“, beteuert Todd. Es gehe Putin, der die kommunistische durch eine konservative „Soft Power“ ersetzt habe, lediglich um eine vernünftige wirtschaftliche Partnerschaft mit Westeuropa. Diese Perspektive hat er in seiner viel beachteten Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz von 2007 dargelegt. Doch kaum ein westlicher Politiker wollte ihm glauben. Demgegenüber ist zum Beispiel der Chemieingenieur Samuel Furfari, ein ehemaliger hoher Funktionär der EU-Kommission, davon überzeugt, dass Westeuropa über kurz oder lang zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit .Russland zurückkehren wird.
Die EU hält Todd für „ein unkontrollierbares und buchstäblich irrreparables Kraftwerk.“ Putins Einmarsch in die Ukraine gebe der EU-Elite nun die Gelegenheit, die Verantwortung für ihr Scheitern auf Russland abzuwälzen. Die gesamte politische „Elite“ der EU habe das eigene Denken eingestellt und sich in einen ferngesteuerten Roboter der US-Neocons verwandelt. Todd spricht vom „assistierten Suizid“ Europas. Für die deutsche „Maschinengesellschaft“ und ihre passive Führungsschicht ohne Nationalbewusstsein findet Todd hingegen eher milde Worte. Er schließt nicht aus, dass das Land aus den gegenwärtigen Wirren sogar als Sieger hervorgeht, weil es ihm bislang gelungen ist, einen Teil seiner Arbeitsdisziplin und seiner industriellen Basis zu erhalten. Diesen Optimismus teile ich nicht. Der Brexit hingegen sei kein Versuch der Rückkehr zum Nationalstaat, sondern zeuge von dessen Verfall. Großbritannien sei „auf dem Weg zur Nullnation.“ Dessen nihilistische und narzisstische Elite pflege den Hass auf die Proleten-Rasse, die für den Brexit gestimmt hat. Mit der Religion gehe auch das Nationalgefühl unter. Europa sei „bevölkert von apathischen Bürgern und unverantwortlichen Eliten.“ Ich lasse das mal so stehen.
Die USA, ein Opfer der Entchristlichung und des ukrainischen Nihilismus?
Eine noch negativere Einstellung hat Todd gegenüber den USA, was wiederum kaum verwundert, wenn man weiß, dass der durch historische Rivalität, weniger ideologisch begründete Anti-Amerikanismus in Frankreich weit verbreitet ist. Im Unterschied zur vormaligen weißen protestantischen Elite angelsächsischer Herkunft (WASP) verdiene die heute in Washington herrschende Clique den Namen „Elite“ gar nicht, schreibt Todd. Wie der bekannte US-Politologe Stephen Walt bezeichnet Todd diese Gruppe als „Blob“, als strukturlos wuchernden Pilz. Diesem gehe es nicht um geistige Inhalte, sondern nur um militärische Macht. Deren Schwachpunkt in den USA – sichtbar an der geringen Zahl von Ingenieurs-Studenten im Vergleich zu Russland und Europa – sei der Zerfall der zum Teil nur noch fiktiven Industrie. Die intelligentesten jungen Leute gehen ins Finanz- oder Rechtswesen, weil sie dort erheblich mehr verdienen können als in der Industrie. Importe können den Ingenieursmangel nur teilweise beheben. So sei es dazu gekommen, dass die Amerikaner der Ukraine nicht einmal genügend Munition liefern konnten. Amerika verstehe sich heute halt besser auf die Produktion von Papier- oder Computergeld als von Maschinen.
Das hilft die Frage zu beantworten, warum sich der „Rest der Welt“ für Russland und gegen die USA entschieden hat, indem er russisches Öl und Gas kaufte und ihm elektronische Teile lieferte. Viel dazu beigetragen hat die Beschlagnahme russischer Vermögenswerte im Ausland, was die Oberschicht weltweit in Panik versetzte. Die tiefere Ursache des Scheiterns der westlichen Sanktionen liege aber in der Missachtung der anthropologischen Diversität der Welt, betont Todd und verweist dabei auf seine langjährigen Forschungen über den Einfluss der Familienstrukturen auf Ökonomie, Ideologie und Politik. Ergebnis: Bei weitem nicht überall begünstigen die Familienstrukturen das Aufkommen der liberalen Demokratie, wie Vulgär-Hegelinaner vermutet hatten. In vielen Ländern der Welt herrschen stabile patriarchalische Strukturen vor, die zum Teil ein Gegengewicht im Egalitarismus finden, kollektivistische Sozialsysteme begünstigen sowie die woke LGBTQ-Ideologie des postmodernen Westens verabscheuen.
Todd fragt deshalb: „…wie sollte die Zustimmung zu einem Kult des Falschen zu einem sicheren militärischen Bündnis führen? Ich für meinen Teil glaube, dass es tatsächlich eine mentale und soziale Beziehung gibt zwischen diesem Kult des Falschen und der mittlerweile sprichwörtlichen Unzuverlässigkeit der Vereinigten Staaten in internationalen Angelegenheiten.“
Todd räumt ein, dass die Ukraine nicht, wie viele Populisten behaupten, das Opfer des Expansionismus der bösen US-„Neocons“ ist. Er stellt fest, dass Washington über längere Zeit nicht die Konfrontation mit Russland suchte. Vielmehr habe die dem Nihilismus verfallene Kiewer Führung den geistig hohlen und unentschlossenen Washingtoner Blob in eine Falle gelockt. Ausschlaggebend für die antirussische Kehrtwende der USA sei die von Deutschland angeführte europäische Opposition gegen den militärischen Angriff der USA auf den Irak gewesen. Todd: „Die Bildung einer gemeinsamen deutsch-französischen-russischen Front gegen den Irakkrieg hat das amerikanische geopolitische Establishment, in dem gerade der Blob entstand, alarmiert.“ Hauptmotiv der Amerikaner sei die Angst vor einem unabhängig agierenden Deutschland gewesen. Im Jahre 1997 war der Bau der Nord-Stream-Pipeline entschieden worden. Im Jahre 2007 hielt Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz seine Grundsatzrede, in der er seine Opposition gegen eine unipolare Welt erklärte. Im Jahr darauf begann die NATO, nun selbst dem Nihilismus erlegen, auf ihrem Gipfel in Bukarest sich für die Ukraine zu öffnen und sich dadurch die Grube zu graben, aus der sie, so Todd, nicht mehr entkommen wird. Die Niederlage der NATO und der Aufstieg Russlands zur weltweit respektierten Macht seien unvermeidlich.
Der Westen ist (noch) nicht am Ende
In seinem aktuellen Nachwort zur deutschen Ausgabe weist Todd auf die aus der Position der demografischen Schwäche geborene neue Nukleardoktrin Russlands hin: Eine Bedrohung für Nation und Staat wird Russland mit taktischen Nuklearschlägen beantworten. Deshalb fragt er: „Warum akzeptiert der Westen seine Niederlage nicht? Warum scheint er, während ich dies schreibe, bereit zu sein, auch den letzten Ukrainer zu opfern und vor allem durch seine Pläne, mit Langstreckenraketen russisches Territorium anzugreifen, das Risiko eines thermonuklearen Schlagabtauschs mit Russland einzugehen?“
Wie die meisten Liberalen habe ich bis vor wenigen Jahren mit den USA sympathisiert. Andere würden sagen, ich habe mich in einer von der Sympathie für den Westen und seine Werte geprägten Filterblase bewegt. Auch wenn ich heute nicht übersehen kann, dass sich dieser Westen, den Staatspräsidenten meines Gastlandes vor Augen, im wirtschaftlichen und geistig-moralischen Niedergang befindet, erscheinen mir manche Aussagen Todds etwas voreilig oder einseitig. So etwa seine Vermutung (oder Hoffnung?), das kriegsmüde Israel werde sich eines Tages Russland zuwenden. Todd lässt gleichzeitig seine Sympathien für den Ex-US-Präsidenten Barack Obama durchblicken und schließt sich dem bei uns verbreiteten Trump-Bashing an.
Auch wenn Todd aus dem seiner Meinung nach erreichten „Nullzustand des Protestantismus“ folgert, dass der amerikanische Niedergang unumkehrbar ist, verspreche ich mir einiges von einem erneuten Wahlsieg Donald Trumps in den USA. Zwar bin ich beileibe kein Fan von ihm, schließe aber aus der Bibel-Lektüre, dass sich die göttliche Vorsehung manchmal auch umstrittener Persönlichkeiten bedienen kann. Ich denke dabei vor allem an bestimmte Unterstützer Trumps wie Elon Musk und Peter Thiel. Die beiden hoch innovativen und erfolgreichen Unternehmer zeigen in meinen Augen, dass der Westen noch längst nicht am Ende ist. Wohl gerade deshalb werden beide von den nihilistisch infizierten Massenmedien zu Feinden erklärt. Ich glaube aber nicht, dass es auf die Dauer gelingt, solche kreativen Menschen auszugrenzen.
„Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall“, aus dem Französischen von Tabea A. Rotter. Westend Verlag, Neu-Isenburg, 2024. 350 Seiten. € 28,-