Edgar L. Gärtner
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„Es könnte (neben unserer bekannten Welt) eine Welt geben, in der Napoleon die Schlacht von Waterloo gewonnen hat oder noch eine andere Welt, in der Amerika noch immer britisches Territorium ist.“ Das ist kein Zitat aus einer Diskussion zwischen Science-fiction-Autoren, sondern von einer Veranstaltung des europäischen Kernforschungszentrums CERN in Genf. Es ging dabei um mögliche Ergebnisse der damals noch nicht begonnenen Experimente mit dem neuen Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider (LHC). Das ist ein kreisförmiger Tunnel von 27 Kilometern Länge mit einer Doppelröhre 100 Meter unter der Erde zwischen der Schweiz und Frankreich, in dem Elementarteilchen fast bis auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden, um sie vor aufwändigen Detektoren an vier Punkten des Kreises zusammenstoßen zu lassen. Die dabei entstehenden Bruchstücke von Elementarteilchen sollen den Forschern Anhaltspunkte dafür liefern, was kurz nach dem „Urknall“ vor schätzungsweise 13,8 bis 15 Milliarden Jahren passierte.
Der in den Massenmedien als „Durchbruch“ gefeierte Nachweis des „Gottesteilchens“ Higgs Boson im LHC musste übrigens dementiert werden. Dieses Teilchen soll den bekannten anderen Elementarteilchen mit Ausnahme von Photonen und Gluonen die Schwerkraft verleihen. Insofern stellt sich die Frage, ob sich der Milliardenaufwand für den LHC überhaupt rechtfertigen lässt, zumal bekannt wurde, dass bei dem am CERN gleichzeitig durchgeführten „Cloud“-Experiment zum Nachweis des Einflusses der Sonnenaktivität auf die Bewölkung und somit auf die Klimaentwicklung der Erde wegen des LHC gespart werden musste. Immerhin nutzt dieses Experiment den LHC, um den Beschuss der Erd-Atmosphäre mit kosmischen Teilchen zu simulieren.
Es geht beim LHC vor allem um die Frage, ob beim „Urknall“ allein das uns bekannte, mit Lichtgeschwindigkeit expandierende Universum mit Milliarden, wenn nicht Billionen von Galaxien entstanden ist oder eine Vielzahl paralleler Universen mit zum Teil unterschiedlichen Naturkonstanten und physikalischen Gesetzen. Von der Möglichkeit mehrerer Parallelwelten waren zwar schon die Atomisten Leukipp und Demokrit im alten Griechenland überzeugt. Doch als naturwissenschaftliche Hypothese formulierte das als erster der amerikanische Quantenphysiker Hugh Everett im Jahre 1957. Da war dieser noch Student und wurde zunächst, zumal er dem Alkohol zugetan war, nicht ganz ernst genommen. Everett bezog sich dabei auf die 1926 publizierte Wellen-Gleichung des Physik-Nobelpreisträgers Erwin Schrödinger (1887-1961) über die Aufenthaltswahrscheinlichkeit von Elementarteilchen wie zum Beispiel der (scheinbar) um den Atomkern kreisenden Elektronen. Diese Gleichung drückt aus, dass die Realität auf der Ebene der Quantenobjekte nicht unabhängig vom jeweiligen Beobachter ist. Denn der Akt der Beobachtung bzw. Messung bringt die Welle eines in Potentia, d.h. nur der Möglichkeit nach existierenden Quantenobjekts zum Einsturz. Schrödinger hat das mit dem berühmt gewordenen Gedankenexperiment einer in einem Kasten eingeschlossenen und vom Gifttod bedrohten Katze illustriert. Diese ist gleichzeitig tot und lebendig, solange niemand den Kasten aufmacht und nachschaut.
Die Quantenphysik beschäftigt sich also nicht mit „objektiven“ Fakten, sondern mit Möglichkeiten. Erst die Beobachtung schafft Fakten, indem sie eine von einer Vielzahl von Möglichkeiten fixiert. So bekommt die menschliche Freiheit Platz im Naturgeschehen. Daraus könnte man nun schließen, dass der Beobachter die Wirklichkeit erschafft, und zwar mit jeder weiteren Beobachtung eine neue. Das bedeutet aber noch nicht, dass man damit auch die Geschichte der Menschheit umschreiben könnte. Denn jeder Mensch mit einem Rest gesunden Menschenverstands weiß, dass es in der Geschichte keine Rückfahrkarten gibt. Das hat den Quantenphysiker Howard Wiseman vom Griffith Center for Quantum Dynamics der Universität von Kalifornien nicht davon abgehalten, kürzlich in der New York Post zu bekräftigen, dass sich das Universum mit jeder Quanten-Messung in eine Gruppe neuer Universen auffächert. „Alle Möglichkeiten werden auch realisiert“, beteuerte Wiseman. „In einigen Universen verfehlt der Asteroid, dessen Einschlag auf der Erde zum Aussterben der Dinosaurier führte, sein Ziel. In anderen Universen wird Australien von den Portugiesen besiedelt.“
Wir haben uns schon daran gewöhnt, dass die verrücktesten Ideen heute fast immer aus Kalifornien kommen. Längst sind solche Ideen zum Mainstream geworden. Viele Menschen finden zum Beispiel nichts dabei, dass die Bürokraten und Diplomaten der UN gerade versuchen, die Geschichte umzuschreiben, indem sie den Menschen einreden, sie könnten mithilfe der amtlichen „Klimapolitik“ das Klima, definiert als Mittelwert von Temperatur und Niederschlag eines Ortes in den vergangenen 30 Jahren, rückwirkend steuern. Dass Politiker und Beamte sich in Paralleluniversen bewegen, steht so gesehen außer Frage. Es gibt immer mehr Wissenschaftler und auch einfache Menschen, die nicht mehr zwischen einem Film-Szenario und dem wirklichen Leben unterscheiden wollen oder können. Schon im Jahre 2003 hat der Oxford-Professor Nick Bostrom in einem wissenschaftlichen Artikel die Vermutung ausgesprochen, unser Leben sei vielleicht nur eine Computersimulation auf der Festplatte von Außerirdischen. Die Idee wurde, wen wundert’s, sofort vom kalifornischen Star-Investor (mit Geld, das ihm nicht gehört) Elon Musk aufgegriffen. Das Vorbild für eine solche Vision ist der erfolgreiche Science-Fiction-Film „Matrix“ von 1999. Ich kann mich noch gut daran erinnern, damals von meinen Kindern ins Kino gezerrt worden zu sein. Aber ich habe bis heute nicht recht verstanden, was sie an diesem Film so faszinierte. Glauben nur noch alte weiße Männer an die Existenz einer objektiven Realität und an den Sinn der Wahrheitssuche?
Mit der Quantenmechanik hat die theoretische Physik zweifelsohne die Grenze menschlicher Erkenntnis- und Verständnisfähigkeit erreicht. Es ist wohl kein Zufall, dass sie seit Erwin Schrödinger mehr oder weniger auf der Stelle tritt. Wir können nur ahnen, dass sich hinter der für uns sichtbaren Welt des Zeitlichen ein zeitloses Jenseits verbirgt, zu dem höchstens Mystiker, wenn sie Glück haben, für Momente einen Zugang finden. (Das mit einigem Aufwand experimentell nachweisbare Phänomen der Verschränkung von Photonen deutet darauf hin, dass diese Wurzeln außerhalb der uns zugänglichen Raumzeit haben.) Auf dieser Zwei-Welten-Theorie beruht bekanntlich das Christentum. Die katholische Kirche hat sich gegen Ende des 13. Jahrhunderts ausdrücklich von der platonisch-aristotelischen Eine-Welt-Lehre distanziert. Mit der Vorstellung multipler Universen, zwischen denen Zeitreisen möglich sind, oder gar mit Computersimulationen nach Art der „Matrix“-Filmserie hat die Zwei-Welten-Lehre der Kirche allerdings wenig zu tun, denn sie gilt als reine Glaubenssache.
Während die Kirche gar nicht den Anspruch erhebt, ihre Lehre könne experimentell getestet werden (obwohl gelegentliche Wunder durchaus in diesem Sinn interpretiert werden könnten), treten die immer zahlreicher werdenden Verfechter der Mehrweltentheorie durchaus mit einem wissenschaftlichen Anspruch auf. Doch außer Parallelwelten erster Ordnung, die sich beim Urknall wie Seifenblasen aufgespalten haben sollen und in denen die gleichen mathematischen und physikalischen Konstanten wie die Kreiszahl Pi, die Proportion des Goldenen Schnitts, die Schwerkraft oder die Lichtgeschwindigkeit gelten würden wie in der Welt, in der wir leben, wäre die Existenz von keiner der weiteren der von Max Tegmark, Professor für theoretische Physik am berühmten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston, postulierten Typen von Parallelwelten überhaupt nachweis- oder widerlegbar. Nach den Kriterien des Wissenschaftsphilosophen Karl R. Popper handelt es sich dabei also lediglich um ideologiegestützte Metaphysik, nicht um wissenschaftliche Hypothesen.
Eifernde Atheisten, allen voran der britische Vulgärdarwinist Richard Dawkins, benutzen heute die Mehrweltentheorie, um ihre Auffassung zu begründen, dass der Mensch seine Entstehung dem Zufall verdankt. Denn sonst müssten sie erklären, wie alle Naturkonstanten in unserem Kosmos so fein miteinander abgestimmt werden konnten, dass am Ende der mit Selbstbewusstsein und Vernunft begabte Mensch entstehen musste. Dawkins stellt sich hingegen vor, die statistisch unwahrscheinliche Entstehung eines vernunftbegabten Wesens sei das zufällige Resultat von unzähligen Versuchen in Milliarden von Parallelwelten.
Christliche Philosophen und Theologen gehen demgegenüber davon aus, am Ursprung allen Seins stehe der göttliche Logos. „Im Anfang war das Wort“, sagt das Johannes-Evangelium. Der bekannte Quantenphysiker Carl Friedrich von Weizsäcker (1912-2007) sprach statt vom göttlichen Logos von Quanteninformation, von der die Evolution des Universums ihren Ausgang nahm. Am Anfang unseres Universums gab es nur diese Information, sonst nichts. Deshalb sei die Evolution kein zielloser Prozess, sondern geprägt durch das Streben nach Selbsterkenntnis. Dieses gipfelt in der Evolution des Menschen, Gottes Ebenbild. Wir müssen deshalb die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass unser Geist an einer Wirklichkeit an sich jenseits der Raumzeit teilhat, deren Natur unserem raumzeitlichen Denken nicht erfahrbar ist, die gleichzeitig aber unser Bewusstsein beeinflusst. Die Quantenphysik widerspricht jedenfalls nicht der christlichen Theologie. Die Natur ist danach für uns Menschen nur deshalb prinzipiell erkennbar, weil der göttliche Logos in ihr allgegenwärtig ist. Das erklärt auch, warum die moderne Naturwissenschaft nur im christlichen Abendland aufkommen konnte. Nur hier war die Überzeugung von der Erkennbarkeit der Welt verbreitet.
Nach dem „Rasiermesser“-Prinzip des scholastischen Philosophen Wilhelm von Ockham (1285-1347) sollte in der Wissenschaft von mehreren Erklärungsmöglichkeiten immer die einfachste gewählt werden. Danach hätten die Mehrwelttheorien gegenüber der christlichen Schöpfungslehre kaum Chancen, als Wissenschaft anerkannt zu werden. Wir müssen uns wohl damit abfinden, dass die sichtbare Welt die einzige der menschlichen Erkenntnis zugängliche ist. Die Hoffnung auf ein neues Leben in einem zeitlosen Jenseits bleibt davon unberührt.