Edgar L. Gärtner
Bildquelle: Hans-Jürgen van de Laar (CC BY-SA 4.0)/Wikimedia Commons
Als der Historiker Rolf Peter Sieferle sich im September 2016 in Heidelberg das Leben nahm, hinterließ er auf der Festplatte seines Computers ein Manuskript mit dem Titel „Finis Germania“. Inzwischen hat der Verlag Antaios dieses „Testament“ in Buchform veröffentlicht. Da ich Sieferle persönlich kannte, war ich neugierig, darin etwas über seine Motive zu erfahren. Leider hatte ich Rolf Peter in den Jahren vor seinem Freitod aus dem Auge verloren, was sicher zum Teil mit meinem Rückzug in den ländlichen Raum und ins Religiöse zusammenhängt. Ich hatte ohnehin nur einmal Gelegenheit, mich ausführlich mit Rolf Peter Sieferle zu unterhalten. Das war bei einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Humanökologie (DGH) in Sommerhausen am Main. In welchem Jahr das war, weiß ich nicht mehr. Es muss aber nach dem Jahr 2000 gewesen sein. Vielleicht war es auch erst nach der Publikation der Erstauflage meines Buches „Öko-Nihilismus“ im Jahre 2007.
Ich kannte Sieferle von seinem 1982 erschienen Buch „Der unterirdische Wald“, das detailreich analysiert, wie der vor der Industrialisierung stark heruntergekommene deutsche Wald durch den Übergang zur Kohlenutzung gerettet wurde. Dabei habe sich die Industriegesellschaft aber abhängig gemacht von einer nicht nachhaltig nutzbaren Ressource. Das Buch war inzwischen zum Standardwerk geworden. Ich war nicht mit allen seinen Schlussfolgerungen einverstanden, weil ich nach der Lektüre von Thomas Golds Buch „Deep Hot Biosphere“ (1999) und anderer Arbeiten überzeugt war, dass auch Erdöl und Erdgas und vielleicht sogar die Steinkohle zu den erneuerbaren Rohstoffen gezählt werden müssen. Aber diese Frage spielt in Sieferles „Testament“, wenn überhaupt, nur noch eine nebensächliche Rolle.
In „Finis Germania“ setzt sich Sieferle mit dem in Deutschland vorherrschenden kleinbürgerlich amorphen beziehungsweise sozialdemokratischen Politikstil auseinander. Seiner Meinung nach regiert hier die Regierung nicht wirklich, sondern steht lediglich eine Zeit lang auf der Spitze einer Wanderdüne, die sich ohne ihr Zutun fortbewegt. In der Tat kann man sich spätestens seit der von Angela Merkel zu verantwortenden Öffnung der deutschen Grenze für die Massenzuwanderung orientalischer „Flüchtlinge“ fragen, ob wir überhaupt noch eine Regierung haben. Das genuin Politische wird weitgehend verdrängt durch das nicht steuerbare „System“ im Sog eines prinzipiell grenzenlosen Relativismus, der den Fortschrittsglauben ersetzt hat. Manche sprechen hingegen von einer (ferngesteuerten) „Matrix“. Doch das klingt aber nach Verschwörungstheorie.
Die u.a. vom christlichen Autor C.S. Lewis bereits in den 1940er Jahren beobachtete beziehungsweise befürchtete „Abschaffung des Menschen“ haben wir nach Ansicht Sieferles inzwischen schon hinter uns. Das zeige sich vor allem im Zerfall der Familie, die den Individuen früher Zugang zum Elementaren und Absoluten wie Geburt und Tod sowie zur Welt der Ahnen und des Geistes vermittelte. Diese Einordnung der Individuen in einen Kosmos wird in Deutschland ersetzt durch das Dogma von der unauslöschlichen Kollektivschuld der Deutschen, stellt Sieferle fest. Dadurch wird den Deutschen die Eigenschaft des Menschseins im Grunde abgesprochen. Denn diese säkulare Form der Erbsünde-Lehre (bei deren Begründer Augustinus ist übrigens nicht von „Erbsünde“, sondern vom peccatum originale, der Ursünde, die Rede) kennt im Unterschied zur Bibel weder Gnade noch Liebe. Es gibt für die Deutschen keine Erlösung. Es bleibt ihnen nur, sich selbst abzuschaffen, um als Mythos weiterzuleben. „Adam Hitler wird durch keinen Jesus aufgehoben: man würde einen solchen Jesus wohl auch schleunigst kreuzigen. Die Schuld bleibt daher total, wird von keiner Gnade kompensiert“, bemerkt Sieferle treffend. All das soll mehr oder weniger naturwüchsig, d.h. ohne bewusste Beeinflussung durch Ideologen vonstattengehen.
Was Sieferle als Durchsetzung des Systems bezeichnet, würde ich eher als sukzessive Verdrängung beziehungsweise Ablösung des Politischen durch Verwaltungshandeln analysieren. Ich sehe in der Ausschaltung des politischen Streits das Wesen des Totalitarismus. Paradigmatisch für diesen Prozess ist die Entwicklung der Europäischen Union. Deren Bürokratie akkumulierte im Laufe der Jahre einen Tausende von Seiten umfassenden „Acquis communautaire“, der im Prinzip politisch nicht mehr in Frage gestellt werden darf. Dennoch erleben wir seit dem vergangenen Jahr in Form des Brexit, der Wahl des „Nichtpolitikers“ Donald Trumps zum US-Präsidenten und den Wahlerfolgen einer Vielzahl als „populistisch“ geschmähter nationaler Bewegungen und Parteien das plötzliche Wiederauftauchen des Politischen. Auf einmal gibt es sogar wieder „Chefideologen“. Noch ist freilich längst nicht klar, ob es sich dabei lediglich um kurzlebige Erfolge in Rückzugsgefechten oder um eine dauerhafte Wiederauferstehung des Politischen handelt. Sieferles Pessimismus hinsichtlich der Macht von Ideen scheint mir jedenfalls vor diesem Hintergrund übertrieben, wenn nicht total deplatziert.
Im Gegensatz zu Sieferles Behauptung ist der Relativismus in der Praxis durchaus nicht grenzenlos. Alle historischen Erfahrungen sprechen dafür, dass es ein moralisches Gesetz gibt, das, wie der Apostel Paulus im viel zitierten Römerbrief (2, 14-15) betont, selbst den Heiden ins Herz geschrieben ist. C.S. Lewis, der in seinem Büchlein „The Abolition of Man“ (1943) bewusst auf die christliche Terminologie verzichtet, spricht vom „Tao“ und weist darauf hin, dass sich in der Weltgeschichte nie ein radikal neues Wertsystem durchsetzen konnte. Statt vom Tao können wir auch vom gesunden Menschenverstand oder vom Gerechtigkeitsgefühl sprechen, das, abgesehen von einer winzigen Minderheit von Psychopathen, allen Menschen eigen ist. Sobald und solange die menschlichen Individuen aber in einem Stamm von Jägern oder Hirten, in einem muslimischen Familienclan, in einer amorphen Menschenmasse oder in einer totalitären Bewegung gefangen sind, wird der gesunde Menschenverstand allerdings mehr oder weniger lange unterdrückt beziehungsweise verdrängt. Doch ihn ganz auszuschalten, ist unmöglich. Wenn nicht bei der ersten, dann vielleicht bei der zweiten oder dritten Gelegenheit wird er sich wieder Bahn brechen.
Man kann das gut im aktuellen französischen Präsidentschaftswahlkampf beobachten. Frankreich wurde nicht zufällig zum Geburtsland des Liberalismus. Der „Bon sens“ gilt dort im täglichen Leben, außer bei der Regierung, noch heute recht viel. Dennoch wurde das Land durch den Sieg der linken Volksfront in der Vorkriegszeit, das national-sozialistische Kollaborations-Regime des Maréchal Pétain unter deutscher Besatzung sowie das Zusammengehen von Gaullisten und Kommunisten in der unmittelbaren Nachkriegszeit zur Trutzburg des Sozialismus in Europa. Eine der wenigen Gelegenheiten, davon wegzukommen, ließ der liberal angehauchte Präsident Valérie Giscard d’Estaing während seiner Amtszeit (1974-1981) verstreichen. Doch im letzten November gewann der zum Liberalismus bekehrte konservative Ex-Premierminister François Fillon überraschend die Stichwahl bei der offenen Kandidatenkür der Republikaner (LR). Sein Sieg gegen die rechtssozialistische Kandidatin Marine Le Pen in der Stichwahl am 7. Mai schien greifbar nahe. Doch es kam, was kommen musste: Das „System“ und seine realen oder nur scheinbaren Profiteure setzten alle Hebel in Bewegung, um den von Fillon angekündigten „Bruch“ mit der seit Jahrzehnten eingefahrenen sozialistischen Logik noch abwenden zu können. Dazu gehört vor allem der Missbrauch der Justiz für die Organisation einer Rufmord-Kampagne gegen Fillon, über die ich hier ausführlich berichtet habe. Als der Stern Fillons in bestellten Meinungsumfragen (scheinbar) zu sinken begann, entpuppten sich Mitarbeiter und Parteikollegen serienweise als Verräter.
Doch Fillon ließ sich trotz der Eröffnung eines staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens gegen ihn nicht beirren und versicherte, seine Kandidatur für das höchste Staatsamt keinesfalls zurückziehen zu wollen. Eine Großkundgebung am 5. März auf dem Pariser Trocadero-Platz gegenüber dem Eiffel-Turm gab ihm recht. Trotz strömenden Regens und heftiger Windböen versammelten sich auf dem Platz innerhalb kurzer Zeit bis zu 200.000 Anhänger (je nach Schätzung). Alain Juppé, Fillons wichtigster Rivale im LR, verzichtete daraufhin endgültig auf eine Kandidatur. Fillon hat nun wieder gute Chancen, trotz eines vorübergehenden Sympathieverlusts, am 7. Mai in die Stichwahl zu gelangen.
Dieses Beispiel zeigt ebenso wie der unverhoffte Sieg Donald Trumps in den USA, dass der gesunde Menschenverstand, wenn er sich erst einmal Bahn gebrochen hat, nur noch mit roher Gewalt aufzuhalten ist. Immer mehr Franzosen erkennen, dass die wirtschaftliche Wachstumsschwäche und hohe Sockel-Arbeitslosigkeit ihres Landes direkt mit dem rekordverdächtig hohen Staatsanteil am französischen BIP von (offiziell) 57 Prozent zusammenhängen. Und sie verstehen, dass der von Fillon vorgeschlagene durchaus moderate Weg zum Abbau der Hypertrophie des Staates die beste Alternative zum Weiterwursteln auf den ausgetretenen Pfaden des linken oder rechten Sozialismus ist. Zwar sind bis zum 7. Mai durchaus noch böse Überraschungen möglich. Dennoch wird sichtbar, dass selbst ein von seinen „lieben“ Parteifreunden verlassener Anti-System-Kandidat reale Chancen behält, wenn im Volk der gesunde Menschenverstand die Oberhand gewinnt. Was bedeutet das für Deutschland?
Zuerst veröffentlicht auf www.ef-magazin.de/