Macron und Le Pen in der Stichwahl
Edgar L. Gärtner
Die Franzosen haben am 23. April, oberflächlich besehen, genau so gewählt, wie es die internationalen Finanz-Eliten von ihnen erwartet haben. Es kam diesen Kreisen vor allem darauf an, eine klare Wahl zwischen einem liberalen, auf die vorsichtige Zurückdrängung des Wohlfahrtsstaates ausgerichteten Programm des Schuldenabbaus und einem protektionistischen Programm der nationalen oder internationalen sozialistischen Umverteilung zu verhindern. Um das zu erreichen, mussten sie den aus offenen Vorwahlen hervorgegangenen liberal-konservativen Überraschungs-Kandidaten François Fillon mit allen ihnen zur Verfügung stehenden publizistischen und juristischen Tricks schlecht machen und das angeblich unbeschriebene Blatt Emmanuel Macron zum Wunderkind hochjubeln. Diesem soll nun gelingen, was seit Napoléon Bonaparte noch keinem Führer Frankreichs gelang: ein kompletter und dauerhafter Umbau der seit Jahrzehnten zwischen Links und Rechts tief gespaltenen politischen Landschaft Frankreichs. Tatsächlich erreicht haben sie stattdessen eine noch schärfere Spaltung des französischen Volkes zwischen „oben“ und „unten“.
Angesichts der Stimmenverteilung für die vier Favoriten (24 Prozent für Macron, 21,3 Prozent für Le Pen, 20 Prozent für Fillon und 19,6 Prozent für den Linksaußen Mélenchon) reagieren die europäischen Börsen fürs erste mit großer Erleichterung. Der Pariser Index CAC 40 sprang um bis zu fünf Prozent in die Höhe, die Aktien der Großbanken sogar um beinahe zehn Prozent. Aber schon werden auch in der Wirtschaftspresse Stimmen laut, die vor einem Chaos bei den auf die Präsidentschaftswahlen folgenden Wahlen zur französischen Nationalversammlung warnen. Denn gegen eine Mehrheit im Parlament kann auch der mit vergleichsweise großen Vollmachten ausgestattete französische Präsident nicht lange regieren. Im französischen Mehrheitswahlrecht zählt die lokale und regionale Verankerung der Kandidaten für einen Sitz im Parlament. Eine solche fehlt den Anhängern Macrons fast völlig. Nur 14 der bereits aufgestellten Kandidaten unterstützen ihn bislang offen. Um eine Regierung bilden zu können, bräuchte Macron 290 verlässliche Unterstützer im Parlament. Um das zu erreichen, müsste Macron auf eine Koalition von Parteien der rechten und linken Mitte hinarbeiten. Doch mit Regierungskoalitionen gibt es in der französischen politischen Klasse wegen des Mehrheitswahlrechts kaum Erfahrungen. Nicht wenige Beobachter erwarten deshalb einen raschen Verschleiß wechselnder Koalitionen wie in der IV. Republik.
Ob ein Wahlerfolg Fillons ein größeres Durcheinander verhindert hätte, ist aber fraglich. Während des ganzen Wahlkampfes hat es sich gezeigt, dass Fillon unter den Granden seiner Partei Les Républicains (LR) nur sehr wenige Freunde hat, auf die er zählen kann. Schon Sekunden nach der ersten Hochrechnung des Wahlergebnisses in den staatlichen Radio- und TV-Sendern am 23. April um 20:00 Uhr riefen Fillons Partei-Rivalen Christian Estrosi (bis 2016 Bürgermeister von Nizza, heute Vorsitzender des Regionalrats der Region Provence-Alpes-Côte d‘Azur), François Baroin (Bürgermeister von Troyes, ehemaliger Finanzminister unter Premierminister Fillon) und Alain Juppé (Bürgermeister von Bordeaux, Premierminister unter Jacques Chirac und später Minister unter Premierminister Fillon) zur Wahl Macrons in der Stichwahl auf. Zuvor hatten sie vergeblich versucht, Fillon wegen der gegen ihn erhobenen Anklage zum Rücktritt von seiner Kandidatur zu bewegen. Fillon hätte auch als gewählter Staatspräsident große Mühe gehabt, sein moderates Reformprogramm gegen die Machenschaften solcher „Freunde“ durchzusetzen. Seine Konsequenz ist der Rückzug aus der aktiven Politik. Er wird sich bei den bevorstehenden Parlamentswahlen nicht einmal mehr um ein Abgeordneten-Mandat bewerben. Macron wird wahrscheinlich, um die LR zu zerlegen und sich eine die herkömmlichen politischen Lager übergreifende Mehrheit zu verschaffen, Juppé oder Baroin zum Premierminister ernennen wollen. Mit diesen ist er sich einig in der Verharmlosung der Gefahr des Islamismus. Es wird mit beiden wahrscheinlich keine Maßnahmen geben, die in der Lage wären, die Terrorgefahr einzudämmen.
Auch in der Wirtschaftspolitik wären von beiden keine durchschlagenden Impulse für den Abbau der der als Wachstumsbremse und Motor der Arbeitslosigkeit wirkenden französischen Staatsverschuldung in Höhe von 2,147 Billionen Euro (beinahe 100 Prozent der französischen Wirtschaftsleistung), denn eine Regierung mit einer so wackeligen Parlaments-Mehrheit müsste nach allen Seiten Wahlgeschenke verteilen, um das Land zumindest für kurze Zeit zu beruhigen. Das wird sich in den Staatsfinanzen niederschlagen. Als Ausweg aus der wirtschaftspolitischen Misere sieht Macron den Griff nach den deutschen Export- und Haushaltsüberschüssen in der Form der Sozialisierung der Staatsschulden. Um das zu erreichen, fordert er die Schaffung eines Finanzministeriums der Euro-Zone mit einem eigenen Etat in der Größenordnung eines hohen dreistelligen Milliardenbetrags sowie die Einführung von Eurobonds. Darin wäre sich Macron mit Martin Schulz, dem Kanzlerkandidaten der SPD, einig, nicht jedoch mit Angela Merkel und Wolfgang Schäuble, die beide diese „Lösung“ kategorisch ausgeschlossen haben. Merkel sogar lebenslang. Man wird sehen, was davon übrig bleibt.
Etwa die Hälfte der französischen Wähler hat am 23. April gegen die EU gestimmt. Sie werden Macron und seinen Helfern in den gemäßigten Rechtsparteien bei der weiteren Vertiefung der EU- und Euro-Zusammenarbeit wohl nicht lange passiv zuschauen. Wie weit die französischen Wähler geneigt sind, Macrons Experiment zu unterstützen, wird sich bereits an ihrer Beteiligung beim zweiten Wahlgang am 7. Mai ablesen lassen. Normalerweise ist die Wahlbeteiligung in Frankreich bei den Stichwahlen deutlich höher als im ersten Wahlgang, weil die Franzosen durch die Tradition des Mehrheitswahlrechts daran gewöhnt sind, dann eher „nützlich“ zu wählen als ihre Lieblinge. In diesem Jahr könnte die Wahlbeteiligung aber beim zweiten Durchgang einbrechen, weil bei vielen Wählern die Abneigung gegen einen Vertreter der europäischen Finanzelite größer sein dürfte als die Angst vor einer Nationalistin ohne Regierungserfahrung. Jean-Luc Mélenchon zumindest hat keine Wahlempfehlung für die zweite Runde ausgegeben. Auch etliche Wähler Fillons dürften wohl lieber zu Hause bleiben, als Macron in den Elysee-Palast zu helfen.
Macrons Regierung würde von der Mehrheit der Franzosen vor allem daran gemessen, wieweit sie in der Lage ist, die hohe Sockelarbeitslosigkeit zu vermindern und die unkontrollierte Zuwanderung rückständiger Muslime zu stoppen. Beides werden Macron und seine Verbündeten bei der gemäßigten (falschen) Rechten nicht liefern können. Und so wird wohl (leider) wieder einmal die Straße entscheiden, wie es mit Frankreich weitergeht.