Die automatische Kontenabfrage ist nur der Anfang
Wenn der permanente Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM), wie geplant, am 1. Juli 2012 in Kraft tritt, dann müssen die deutschen Sparer und Steuerzahler für Billionen von Euros bürgen. Schon im September 2011 schlug deshalb Levin Holle von der Boston Consulting Group der Bundesregierung eine Einmalsteuer auf alle Sparvermögen vor, die nicht weniger als sechs Billionen Euro in die Staatskasse brächte. Um ihre im Schweiße des Angesichts erworbenen Ersparnisse vor dem Zugriff des Staates zu retten, bleiben den immer mehr zu gläsernen Bürgern werdenden Steuerpflichtigen kaum noch Auswege. Schritt für Schritt bauen die deutschen Finanzbehörden ein System lückenloser Kontrollen aller privaten Zahlungsvorgänge auf. Das beginnt mit der Einführung einer einheitlichen Steuernummer, geht weiter mit der automatisierten Kontrollabfrage privater Bankkonten und dem Einsatz von raffinierter Schnüffelsoftware für die Aufdeckung von Ungereimtheiten in Steuererklärungen und soll nach dem erklärten Willen der EU mit der Wiedereinführung von Devisenkontrollen und der schrittweisen Abschaffung des Bargeldes enden.
Verkauft wird das alles den hilflosen Steuerbürgern mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität. Doch allein im vergangenen Jahr gab es über das Bundeszentralamt für Steuern schon 63.000 Kontenabfragen. Deshalb wies Bundesdatenschützer Peter Schaar vor kurzem darauf hin, dass die im April 2005 eingeführte automatisierte Kontenabfrage allmählich zu einem Routine-Instrument wird. „Eine Maßnahme, die laut Bundesverfassungsgericht eigentlich als Ausnahme gedacht war, hat sich fast zu einer Routine entwickelt. Diesem ungehemmten Zuwachs muss der Gesetzgeber dringend Einhalt gebieten“, fordert Schaar. Das bleibt wohl ein frommer Wunsch. Denn die Vermehrung und Verfeinerung der Überwachungssysteme hat offenbar System.
Vor nunmehr sechs Jahren hat das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) jedem Deutschen vom Baby bis zum Greis eine einheitliche Steueridentifikationsnummer zugeteilt. Diese Nummer enthält auch Angaben über die Anzahl minderjähriger Kinder, den Ehepartner und die Religionszugehörigkeit. Sofort kam der Verdacht auf, diese Nummer könne für den heimlichen Einstieg in eine verfassungsrechtlich bedenkliche allgemeine Personenkennziffer (PKZ) missbraucht werden. Doch entsprechende Klagen wurden in mehreren Musterverfahren vom Finanzgericht Köln abgewiesen. Anfang August 2011 hat Peter Schaar darauf hingewiesen, dass die Steuer-ID nicht nur von den Finanzämtern, sondern auch von Banken, Versicherungen und Krankenkassen verwendet wird. Ohne Angabe der Steuer-ID sei es in Deutschland schon kaum noch möglich, ein Konto zu eröffnen. „Damit droht die Steuer-ID durch die Hintertür zu einem allgemeinen Personenkennzeichen zu werden“, warnte Schaar. Ohne Kenntnis der Betroffenen könne die Steuer-ID durch die Verknüpfung mit anderen Daten zur Speicherung von Persönlichkeitsprofilen genutzt werden.
Das Nachbarland Frankreich ist uns da schon 65 Jahre voraus. Dort dient die bereits in den frühen 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts unter dem Vichy-Régime eingeführte Numéro d’inscription au répertoire des personnes physiques (NIRPP oder kurz: NIR), heute bekannt als numéro de sécurité sociale (Sozialversicherungsnummer) als universelles Personenkennzeichen, das im Prinzip auf ewig gespeichert wird. Erfunden hat die Nummer der Lochkarten-Experte René Carmille, der als Generalinspekteur der französischen Armee nach deren Niederlage gegen die Hitlertruppen im Jahre 1940 die heimliche Wiedermobilmachung betrieb. Dafür sollte das von ihm entwickelte Nummernsystem dienen. Dieses bestand zunächst aus 12 Ziffern: zwei für den Geburtsjahrgang, zwei für den Geburtsmonat, zwei für das Geburts-Département, drei für den Geburtsort und noch einmal drei Ziffern für die Anordnung im Geburtsmonat. Nach dem Zweiten Weltkrieg weitete Carmille sein System auf den zivilen Bereich aus. Deshalb brauchte er noch eine weitere Ziffer (1 oder 2) für das Geschlecht. Im April 1946 übertrug der französische Staat das System Carmilles per Dekret dem nationalen Statistikamt INSEE offiziell für die Verwaltung der obligatorischen Bürgerversicherung (Sécurité sociale). Später wurden dem System noch Ziffern für die in den überseeischen Départements und im Ausland Geborenen sowie ein Prüfschlüssel angefügt. Da ich selbst eine Zeit lang in Frankreich gearbeitet habe, besitze auch ich einen solchen 15-stelligen Code und kann ihn leider nicht mehr loswerden.
Heute dient der NIR längst nicht mehr nur der Kontrolle von Zahlungsverpflichtungen und Anwartschaften in der Sozialversicherung, sondern auch im gesamten Gesundheitswesen, in der Arbeitslosenversicherung und nicht zuletzt in der Personalentwicklung privater Unternehmen. Mithilfe einiger Querverbindungen ist es nicht nur staatlichen und kommunalen Einrichtungen, sondern auch den Arbeitgebern jederzeit möglich, beinahe alles über Antragsteller oder Bewerber zu erfahren. Im Jahre 1971 baute das INSEE in Nantes das zentralisierte Système automatisé pour les fichiers administratifs et le répertoire des individus (abgekürzt Safari) auf. Da das System infolge der seither eingetretenen Fortschritte der elektronischen Datenverarbeitung zum Missbrauch geradezu einlud, geriet es ins Schussfeld der linken politischen Opposition. Mit dem Gesetz „Informatique et libertés“ vom Januar 1978 versuchte die Regierung unter Präsident Valéry Giscard d’Estaing die Kritiker zu beruhigen, indem sie die Kommission gleichen Namens einsetzte, die Beschwerden nachgeht und Verbesserungsvorschläge macht.
Einen Kontrast zu Frankreich bildete für lange Zeit Großbritannien, das bekanntlich bis heute keinen Personalausweis (ID-Card) und kein Zentralregister eingeführt hat. Dennoch gilt das Land nicht nur wegen der Dystopie seines Sohnes George Orwell als Lehrbuchbeispiel einer überwachten Gesellschaft. Unter den Labour-Premierministern Tony Blair und Gordon Brown bekamen die britischen Städte das weltweit dichteste Netz von Überwachungskameras. Begründet wurde das unter anderem durch die Terrorgefahr und die wachsende Kriminalität. Der heutige konservative Premier David Cameron hat gelobt, dem ein Ende zu bereiten. Auch die von der EU-Kommission gewollte Vorratsdatenspeicherung lehnt er ab. Gründe dafür sind nicht nur der Unmut der Wähler, sondern auch der kaum nachweisbare Nutzen der Dauerüberwachung. Denn Computerprogramme für die automatische Gesichtserkennung an Hand biometrischer Merkmale haben bislang die von der Kriminalpolizei in sie gesetzten Erwartungen eher enttäuscht. Bei einem Feldversuch des deutschen Bundeskriminalamtes vor viereinhalb Jahren am Mainzer Hauptbahnhof lag die Wiedererkennungsrate zwischen sechzig und siebzig Prozent. Doch die Software-Ingenieure haben in der Zwischenzeit sicher nicht geschlafen.
Immerhin zeigt der genannte Versuch, dass deutsche Behörden ernsthaft mit der Einführung solcher Überwachungssysteme liebäugeln. Technische Fortschritte lassen die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit schrumpfen. So bietet das soziale Netzwerk Facebook seit einigen Monaten einen Gesichtserkennungsdienst an, der zunächst auf den vom jeweiligen Nutzer gekennzeichneten Freundeskreis beschränkt ist. Google hat in sein Web-Album „Picassa“ einen erstaunlich gut funktionierenden Gesichtserkennungsdienst integriert. Diese Programme erlauben es bereits, Freunde auf Fotos großer Menschenansammlungen in Fußball-Stadien oder politischen beziehungsweise religiösen Demonstrationen ausfindig zu machen. „Gigatagging“ heißt die neue Freizeitbeschäftigung. Der Verdacht liegt nahe, dass professionelle Fahnder solche harmlos erscheinenden Spielchen nutzen, um ihre eigene biometrische Gesichtserkennungs-Software zu verbessern. So testete die Bundespolizei am Frankfurter Flughafen bereits ein Verfahren des automatischen Vergleichs der Gesichter von Flugpassagieren mit registrierten digitalen Passfotos.
Das deutet darauf hin, dass die deutschen Behörden sich viel von der Einführung elektronischer Ausweise versprechen. Durch die Hintertür können sie auf diese Weise auch zu der auf dem parlamentarischen Weg bislang nicht durchsetzbaren PKZ nach französischem Vorbild gelangen. Andere Vorteile der elektronischen Speicherung biometrischer Merkmale wie Fingerabdrücke oder Augen-Nase-Mund-Abstände sind nämlich nicht ersichtlich. Denn bis dato haben sich elektronische Ausweise im Vergleich zum herkömmlichen deutschen in Plastik eingeschweißten Personalausweis keineswegs als fälschungssicherer erwiesen. Vor allem ältere Menschen liefern oft keine verwertbaren Fingerabdrücke. Gesichtsformen müssen bei der Aufnahme nicht selten elektronisch retuschiert werden, damit sie in vorgegebene Raster passen. Dadurch geht manchmal ihre maschinelle Erkennbarkeit verloren. Doch die Speicherung biometrischer Daten kann die ungeliebte PKZ ersetzen.
Währenddessen entwickelt sich die in Köln ansässige Gebührenzentrale der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten (GEZ), kaum beachtet von den Hauptstrom-Medien, zu einer Kontrollbehörde Orwellschen Ausmaßes. Die GEZ verwaltet, gedeckt durch das von den Ministerpräsidenten der Länder ausgehandelte neue Rundfunkrecht, die einzige zentrale Datenbank, in der Angaben über die Lebensumstände von 41,2 Millionen deutschen Haushalten (einschließlich bereits aufgelöster) zeitlich unbegrenzt gespeichert werden. Mithilfe technisch längst möglicher Querverbindungen zu anderen Datenbanken wird es dieses Informationssystem erlauben, tendenziell den ganzen Lebenswandel der „Beitragsschuldner“ (so heißen die vom Staatsfunk Zwangsbeglückten) zu verfolgen.