Nach dem Platzen der CO2-Blase in Kopenhagen rechtfertigen die Lebenskraft-Rationierer ihren Eifer mit der angeblich drohenden Rohstoff-Knappheit. Ein neues Positionspapier von vier Chemieverbänden versucht auszumachen, wie die Rohstoffversorgung der chemischen Industrie in den nächsten Jahrzehnten gesichert werden könnte. Die Engpässe liegen nicht da, wo die Politik sie vermutet.
Gehen der Chemie die Rohstoffe aus?
„Erdöl wird auf absehbare Zeit der dominierende Rohstoff für die chemische Industrie bleiben.“ Das betonte Prof. Michael Röper am 11. Januar 2010 bei der Vorstellung des Positionspapiers „Rohstoffbasis im Wandel“, hinter dem die Chemieverbände DECHEMA, die GDCh, die DGMK und der VCI stehen. Röpers Einschätzung mag insofern erstaunen, als er die BASF vertritt, die über einen privilegierten Zugang zum alternativen Rohstoff Erdgas verfügt. Doch Erdgas beziehungsweise dessen Hauptbestandteil Methan bleibt trotz seiner absehbaren Verbilligung gegenüber dem Rohöl in der Praxis ein problematischer Chemie-Rohstoff, weil es bis heute keine Verfahren gibt, um daraus mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand Ethylen, Propylen, C4-Olefine, Benzol und Xylole herzustellen, die mehr als 90 Prozent der Basischemikalien der organischen Chemie ausmachen. Methan muss zunächst mithilfe von Katalysatoren energieaufwändig in Synthesegas umgewandelt werden, um zu Methanol und Olefinen weiter verarbeitet werden zu können. So stagniert der Anteil des Erdgases an der Rohstoffversorgung der deutschen Chemie bei 8 Prozent.
Beim Einsatz von Rohöl, Erdgas und Kohle sieht das Autorenkollektiv unter Vorsitz von Prof. em. Wilhelm Keim (RWTH Aachen) und Prof. Michael Röper übrigens weniger die Endlichkeit der Kohlenwasserstoffvorräte in der Erdkruste, sondern eher die Anreicherung des als „Klimakiller“ verdächtigten Abgases Kohlenstoffdioxid in der Atmosphäre als begrenzenden Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung an. Das hat vor allem Folgen für die Bewertung der Kohlevorräte und der Perspektiven der Kohlechemie. Einerseits erwähnt das Papier die große Reichweite der wirtschaftlich nutzbaren Kohlevorräte (mindestens 150 bis 200 Jahre, nach manchen Schätzungen sogar 1.000 Jahre) und weist darauf hin, dass die Chinesen massiv in Kohlevergasungsanlagen und Carbidöfen investieren, legt aber gleichzeitig nahe, eine mögliche Ausweitung der Kohlechemie in der EU wegen der CO2-Reduktions-Vorgaben der Klimapolitik zu vergessen. Nach dem für Europa ungünstigen Ausgang der Klimakonferenz von Kopenhagen drängt sich demgegenüber aber eher die Frage auf, ob es in Zukunft nicht besser wäre, CO2 zu vergessen anstatt der Kohle. Leider wurde die Frage, wie lange die Europäische Union ihr CO2-Emissionshandelssystem ETS nach dem durchschlagenden Erfolg der Chinesen in Kopenhagen noch am Leben halten kann, bei der Vorstellung des Rohstoff-Papiers der Chemieverbände nicht einmal angeschnitten.
Zurzeit trägt die Kohle nur mit 2 Prozent zur Rohstoffversorgung der Chemie in Deutschland bei. Es handelt sich dabei überwiegend um aromatische Bestandteile des Steinkohleteers, der bei der Verkokung (Entgasung, Pyrolyse) von Steinkohle anfällt. Weltweit gesehen, wird in Kokereien zehnmal mehr Kohle umgesetzt als in Kohlevergasungsanlagen. Nur in China gibt es aber bislang eine gewisse Renaissance der auf Koks aufbauenden Calciumcarbid- beziehungsweise Acetylenchemie mit dem Endprodukt PVC.
Demgegenüber ist die Herstellung von Ammoniak und Methanol mithilfe von Synthesegas aus Kohlevergasungsanlagen technisch aufwändig und kapitalintensiv. Aus diesem Grund gibt es bislang auch in den USA, dem Land mit den größten Kohlevorräten, nur wenige kohlebasierte Chemieanlagen. Eine Perspektive bieten nach Ansicht politischer Kreise Gas- und Dampfkraftwerke mit integrierter Kohlevergasung (IGCC = Integrated Gasification Combined Cycle), die durch CO2-Abtrennung und Endlagerung (CCS) CO2-frei gemacht werden könnten. In Australien arbeitet man stattdessen an der Unter-Tage-Vergasung von Kohle.
Die Verflüssigung von Kohle durch Hydrierung, mit deren Hilfe in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs jährlich 4 Millionen Tonnen Benzin hergestellt wurden, ist aufgrund thermodynamischer Vorteile kostengünstiger als die Kohlevergasung. Doch hängen die Einsatzmöglichkeiten der Kohlehydrierung von der Entwicklung neuartiger Katalysatorsysteme ab.
Es führt also, wie gesagt, mittelfristig kein Weg an der Nutzung von Rohöl beziehungsweise Naphta als wichtigstem Rohstoff der Chemie vorbei. Naphta und andere Erdölderivate machen mit über 18 Millionen Tonnen 80 Prozent der Rohstoffbasis der organischen Chemie in Deutschland aus. Problematisch ist dabei, dass der Rohölpreis von der Chemieindustrie kaum beeinflusst werden kann. Sein Niveau richtet sich in erster Linie nach dem Bedarf der Energiewirtschaft, die 85 Prozent aller Rohöl-Lieferungen als Brenn- und Treibstoff nutzt, und in zweiter Linie nach den Beschlüssen des Kartells der Ölförderländer (OPEC). Die Chemieindustrie vertritt seit längerem die Meinung, Erdöl sei eigentlich zum Verbrennen zu schade. Durchsetzen konnte sie sich damit freilich nicht. Bislang zeigten sich auf dem Rohölmarkt auch noch keine wirklichen Verknappungstendenzen. Die Reichweite der gesicherten und wirtschaftlich nutzbaren Rohölvorräte liegt bei über 40 Jahren – und das seit über 40 Jahren. Das zeigt, dass diese Zeitspanne weniger stoffliche als finanztechnische Bedeutung hat, weil die Finanzierung von Explorationsprojekten mit längerem Zeithorizont für die Investment-Banken uninteressant ist.
Soll Rohöl beziehungsweise Naphta durch andere Rohstoffe wie Kohle oder Biomasse ersetzt werden, müssen wirtschaftlich vertretbare Wege gefunden werden, um zu etwa 200 Grund- und Zwischenprodukten (so genannten „unsterblichen“ Verbindungen) wie Olefinen, Aromaten, funktionellen Gruppen und Monomeren von Massenkunststoffen zu gelangen, die sich im vergangenen Jahrhundert als Schlüsselsubstanzen des Chemiebaums mit Tausenden von Endprodukten erwiesen haben. Gelingt das nicht, muss auf Gedeih und Verderb an der Petrochemie festgehalten werden. Andernfalls würde sich die Ordnung des Chemiebaums in ein Durcheinander verwandeln, das alles andere als nachhaltig wäre.
Der Einsatz nachwachsender Rohstoffe erfolgte in der Chemie bislang nur ausnahmsweise in der Absicht, aus ökologischen Gründen Rohöl durch Biomasse zu ersetzen. Vielmehr ging es in der Regel darum, aus Syntheseleistungen von Pflanzen und Tieren wirtschaftliche Vorteile zu ziehen. Der Anteil nachwachsender Rohstoffe liegt in der deutschen Chemie seit Jahren stabil bei 10 Prozent. Innerhalb dieser Gruppe von Rohstoffen gab es jedoch Umschichtungen. Zuwächse gab es vor allem beim Einsatz pflanzlicher Fette und Öle. Davon werden heute jährlich in der chemischen Industrie etwa 1,15 Millionen Tonnen verarbeitet. Über ein Drittel davon geht in die Herstellung von Tensiden. Dabei geht es vor allem um Fettsäuren mittlerer Kettenlänge (C10 bis C14) aus Kokos- und Palmkernölen, die in heimischen Kulturpflanzen nicht verfügbar sind. Beim Einsatz von Fettalkoholen hat sich seit den 80er Jahren das Mengenverhältnis von synthetischen zu natürlichen umgekehrt. Heute stammen 60 Prozent aus natürlichen Quellen.
Zum Teil geht die wachsende Verwendung pflanzlicher Öle auch auf deren politisch gewollten Einsatz zur Produktion von Biokraftstoffen zurück. Das Positionspapier verschweigt nicht, dass das zu einer Konkurrenz zwischen der Produktion von Futter- und Nahrungsmitteln, zur Explosion der Preise von Grundnahrungsmitteln wie Mais und Reis und in der Folge zu Hungerrevolten in armen Ländern führte. Diese bedenkliche Entwicklung könne nur durch die Entwicklung von Bio-Kraftstoffen der zweiten Generation aus Non-Food-Biomasse vermieden werden. Dazu bedarf es jedoch der Entwicklung geeigneter (Bio-)Katalysatoren für den Aufschluss von Cellulose und Lignin in Bioraffinerien. Bei der Nutzung von Non-Food-Biomasse wie etwa Stroh entstehen jedoch hohe Transportkosten. Inzwischen ist die Biosprit-Blase geplatzt. Deshalb hält sich das Papier mit Aussagen über mögliche zukünftige Entwicklungen zurück.
Außer Fetten und Ölen sind auch Zucker und Stärke begehrte pflanzliche Chemierohstoffe. Das Positionspapier weist darauf hin, dass es in der EU politische Hemmnisse für den Ausbau der Produktion dieser Rohstoffe gibt. So vor allem die Preis treibende EU-Zuckermarktordnung und die Hemmung des Einsatzes Grüner Gentechnik zur Optimierung von Stärkelieferanten wie Mais und Kartoffeln.
Das Positionspapier beschäftigt sich auch mit der Möglichkeit, CO2 als Rohstoff für chemische Synthesen zu nutzen. Da CO2 bei manchen Produktionsprozessen in chemisch reiner Form anfällt, wird es nicht nur als Reinigungs- und Lösemittel genutzt, sondern dient schon heute auch zur Herstellung von Dimethylcarbonat (DMC) aus Methanol und CO2. DMC ersetzt in zunehmendem Maße das gefährliche Phosgen bei der Synthese von Polycarbonaten. Um CO2 aus Kraftwerksabgasen zu Methanol reduzieren zu können, muss es nicht nur von Katalysatorgiften frei gemacht werden. Es bedarf nicht zuletzt einer ökologisch und ökonomisch vertretbaren Methode der H2-Produktion mithilfe von Solar- oder Kernenergie. Sonst wäre die Öko-Bilanz stark negativ und die CO2-Verwertung völlig sinnwidrig.
Führt die politische Fixierung auf CO2 nicht dazu, von dringenderen Problemen der Rohstoffversorgung abzulenken? Diese Frage drängt sich bei der Lektüre des Kapitels über anorganische Rohstoffe auf. Das gilt vor allem für die Beschaffung von Edel- und Sondermetallen für die Herstellung von Computern, Mobiltelefonen und Dünnschicht-Photovoltaik wie Gold, Silber, Gallium, Neodym, Indium, Selen und Tellur. Dr. Christian Hagelüken von Umicore (Wolfgang bei Hanau) beklagte bei der Diskussion des Positionspapiers in Frankfurt, dass sich die EU-Länder im weitaus größeren Maße um die wirtschaftlich uninteressante Wiederverwertung von ausgedienten Waschmaschinen kümmern als um das „Urban Mining“ von teuren Metallen im Elektronikschrott. Gemessen an den Kosten (und an den CO2-Emissionen!) ist beispielsweise das Recycling von Computer-Leiterplatten mit einem Goldgehalt von etwa 250 Gramm je Tonne allemal wirtschaftlicher als die Gewinnung von Erzen mit einem Goldgehalt von 5 Gramm je Tonne aus 3.000 Metern Tiefe. Stattdessen werden 60 bis 70 Prozent des Elektronikschrotts mit seltenen Metallen im Wert von über 5 Milliarden Dollar auf dubiosen Wegen aus der EU zu primitiven Hinterhof-Recycling-Werkstätten in Indien und China exportiert.
Edgar L. Gärtner
(veröffentlicht in: Chemische Rundschau Nr. 1-2 vom 9. Februar 2010)