Nichts geht mehr in Frankreich

Hohe Steuern treiben immer mehr Franzosen auf die Straße

FotoDie Überschrift mag vielen als übertrieben erscheinen, denn selbstverständlich geht das Leben der meisten Franzosen nach wie vor seinen tendenziell rundum staatlich geregelten Gang. Aber für den vor anderthalb Jahren gewählten sozialistischen Staatspräsidenten François Hollande und die Zentralregierung unter Premierminister Jean-Marc Ayrault trifft sie sicher zu. Die französischen Sozialisten haben es in Rekordzeit geschafft, ihre Regierung in eine Sackgasse zu manövrieren. Alles, was Hollande und sein Premierminister jetzt tun, um ihrer misslichen Lage zu entkommen, macht die Probleme nur noch schlimmer. Nach einer Umfrage des Instituts Ifop, die kürzlich im „Journal du Dimanche“ veröffentlicht wurde, hat der Sieger der Stichwahl vom 6. Mai 2012 jetzt nur noch maximal ein Fünftel seines Volkes hinter sich. Keiner seiner Vorgänger der 1958 von General De Gaulle gegründeten V. Republik erlitt einen vergleichbaren Popularitätsverlust.

Nach einer an diesem Wochenende von der Regionalzeitung „Dimanche West France“ veröffentlichten weiteren IFOP-Umfrage erwarten 76 Prozent, also mehr als drei Viertel der Franzosen, dass es in den kommenden Monaten in Frankreich zu einer sozialen Explosion kommt. Im April lag diese Quote noch bei 70 Prozent. Am stärksten ist diese Erwartung in der mittleren Altersgruppe zwischen 35 und 49 Jahren. Dabei gab es kaum regionale Unterschiede, was für Frankreich neu ist.

Hollande, der angetreten war, den verfetteten und überschuldeten französischen Wohlfahrtsstaat durch einige Reförmchen zu retten, die kaum jemanden weh tun sollten, sieht sich auf einmal mit mehr oder weniger gewaltsamen Protesten aus allen Schichten der Gesellschaft konfrontiert – auch in Regionen, denen er seinen Wahlsieg verdankt. Dazu gehört die Bretagne, die seit längerem sozialistisch wählt. Die Halbinsel in äußersten Westen des annähernd sechseckigen Landes leidet nicht nur unter der Entfernung von der Hauptstadt Paris, sondern auch an einer besonders ungünstigen Wirtschaftsstruktur. Vor allem die Vieh- und Fleischwirtschaft erweist sich wegen des vergleichsweise großzügigen gesetzlichen Mindestlohns von derzeit € 9,43 die Stunde und hoher Steuern und Sozialabgaben als kaum noch wettbewerbsfähig. Die Steuerbelastung der Unternehmen liegt offiziell bei 64,7 Prozent. (In Deutschland liegt sie bei 49,4, in der Schweiz bei 29,1 und in Irland bei 25,7 Prozent.) Da brachte die Einführung einer LKW-Maut für Schnellstraßen nach deutschem Vorbild (euphemistisch „Ecotaxe“ genannt) das Fass zum Überlaufen. Anfang November kam es bei Massendemonstrationen gegen die „Ecotaxe“ zu Ausschreitungen, wobei Dutzende von Mautbrücken und Radarblitzer zerstört wurden. Inzwischen hat die dahinter stehende Bewegung der „bonnets rouges“ (roten Mützen) auf ganz Frankreich übergegriffen. Mitte und Ende November blockierten Tausende von Landwirten, Handwerkern und Lkw-Fahrern die französischen Autobahnen. Die französische Polizei muss nun die verbliebenen Mautbrücken und Radar-Blitzer nun rund um die Uhr bewachen.

Es rächt sich nun, dass François Hollande von vornherein entschieden hat, der EU-Vorgabe der Rückführung des Staatsschuldenquote auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht durch eine Verkleinerung des aufgeblähten öffentlichen Dienstes, sondern durch eine Erhöhung von Steuern und Abgaben in der Größenordnung von 30 Milliarden Euro nachzukommen. Der Schuldenstand des französischen Staates erreicht bald 95 Prozent des BIP und das Haushaltsdefizit übersteigt vier des BIP. In Frankreich gibt es zurzeit über fünf Millionen Beamte und fast zwei Millionen Staatsangestellte. Der Staatsanteil an der Wirtschaftsleistung liegt bei über 57 Prozent. Am meisten machte die Einführung einer „Reichensteuer“ von 75 Prozent auf Jahreseinkommen von über einer Million Euro von sich reden. Doch die betrifft nur eine Minderheit Steuerpflichtiger. Der großen Mehrheit der Arbeitnehmer, deren Einkommen unterhalb der Bemessungsgrenze der Einkommenssteuer liegt, macht aber neben der Mehrwertsteuer eher die Vielzahl von Sozial- und Sonderabgaben zu schaffen.

Diese waren schon unter Hollandes Vorgänger Nicolas Sarkozy gestiegen. Die durchschnittliche Abgabenlast auf Einkommen liegt inzwischen in Frankreich bei 46 Prozent. Die sozialistische Regierung hat gerade eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 20 Prozent angekündigt. Als besonders ärgerlich empfinden die arbeitenden Menschen, wie gesagt, die für den 1. Januar 2014 angekündigte neue Öko-Steuer für Lastkraftwagen. Nach den ersten gewaltsamen Protesten gegen diese Steuern in der Bretagne hat der sozialistische Haushaltsminister Bernard Cazeneuve die unbeliebte Steuer sofort ausgesetzt, damit aber die Protestierenden nur ermutigt, bis zum endgültigen Verzicht der Regierung auf die Straße zu gehen. Nun hat Premierminister Ayrault für das kommende Jahr eine Neuordnung des gesamten Systems der Besteuerung angekündigt, das mindestens so unübersichtlich ist wie das deutsche. Aber eine Senkung der Steuerlast ist für die sozialistische Regierung nach wie vor kein Thema. Deshalb gehen die Protestaktionen weiter. „Ras le bol“ (die Schnauze voll) kann man auf vielen Plakaten und Transparenten lesen. Immer öfter gehen Unternehmer und Arbeitnehmer gemeinsam auf die Straße.

Wie aufgrund der Laffer-Kurve zu erwarten war, sind die Einnahmen des französischen Staates infolge der Steuererhöhungen in diesem Jahr nicht gestiegen, sondern gesunken. Die Wirtschaft stagniert und die offizielle Arbeitslosenquote erreicht bald 11 Prozent. Infolge der damit verbundenen Konsumzurückhaltung der Franzosen sanken die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer schon im vergangenen Jahr um viereinhalb Milliarden Euro, die Einnahmen aus der Körperschaftssteuer ebenfalls um über vier Milliarden. Um die Staatseinnahmen zu erhöhen, hat Finanzminister Pierre Moscovici nun eine Verstärkung des Kampfes gegen die Steuerhinterziehung durch Unternehmen angekündigt. Zu diesem Zweck ließ er die Rechtslage dahin gehend ändern, dass bereits die Optimierung der Steuerschuld mithilfe von Steuerberatern als Hinweis auf eine Betrugsabsicht interpretiert werden kann. Nun stehen also alle Unternehmer infolge der bewusst herbeigeführten Rechtsunsicherheit quasi mit einem Bein im Gefängnis. Das bringt den regierenden Sozialisten sicher keine neuen Freunde.

Interessant ist, dass die rasch anschwellende Protestbewegung gegen die unerträglich werdende Steuerlast der Oppositionspartei UMP keinen Zukauf bringt. Seit ihr Führer Nicolas Sarkozy seine Wiederwahl verpasste, ist die Partei heillos zerstritten. Auch der protektionistische Front National Marine Le Pens kann den wachsenden Unmut der Franzosen über den Würgegriff des Steuerstaates nur zum Teil auf ihre Mühlen lenken. Viele Franzosen spüren offenbar, dass der von Marine Le Pen geforderte Austritt Frankreichs aus der Euro-Zone allein nicht ausreicht, um die Wirtschaft wieder zur Blüte zu bringen, zumal auch Le Pen den ausufernden Sozialstaat nicht in Frage stellt. Gegenüber dem linksradikalen Front de Gauche unter Jean-Luc Mélenchon, der ebenfalls vom Unmut gegenüber der sozialistischen Regierung zu profitieren sucht, ist Le Pen aber im Vorteil, weil Mélenchon nicht die wachsende Unsicherheit in den französischen Großstädten thematisiert. Kaum jemand setzt in Frankreich auf eine liberale Alternative zum Etatismus. Schon gar nicht die staatlich alimentierten und ideologisch verbohrten Richtungsgewerkschaften, die die unhaltbare Regierungspolitik zu verteidigen suchen, anstatt die Interessen der arbeitenden Menschen zu vertreten. Links und rechts sind sich in Frankreich einig in der Anbetung des Götzen Sozialstaat. „Liberal“ gilt dort als Schimpfwort.

Umso interessanter sind spontane Bewegungen wie die der „roten Mützen“, die sich schlicht auf den gesunden Menschenverstand berufen. Sie spielt an auf eine Massenbewegung gegen eine schmerzhafte Steuererhöhung durch den letzten französischen König wenige Jahre vor der großen Revolution. In gewisser Weise ist die neue Bewegung eine Fortsetzung des Widerstands gegen die Einführung der Homo-Ehe durch die sozialistische Justizministerin Christiane Taubira, die in der ersten Jahreshälfte Millionen von Franzosen auf die Straße trieb. Historiker sehen darin bereits den Beginn eines „1968 à l’envers“ (auf deutsch: „1968 anders herum“). Nicht von ungefähr warnen die Präfekturen in einem vertraulichen bericht an die Zentralregierung vor einer nicht mehr kontrollierbaren Ausweitung gewaltsamer Proteste, zumal in den letzten Jahrzehnten alle großen sozialen Bewegungen Frankreichs im Spätherbst ausgebrochen sind.

Internet:

La France championne d’europe des charges sociales pesant sur les entreprises

Les français envisagent une explosion sociale