Zu Michel Houellebecqs Zukunftsroman „Unterwerfung“
Edgar L. Gärtner
Michel Houellebecqs gerade zur rechten Zeit erschienenen Roman „Soumission“ (Unterwerfung) eine Dystopie nennen zu wollen, wäre völlig verfehlt. Zeichnet er doch ein durchaus optimistisches Bild der nahen Zukunft Frankreichs und Europas – wenn auch auf sehr hintergründige Weise. Ich kann mir gut vorstellen, dass nicht wenige Vertreter der in Europa herrschenden politischen Klasse insgeheim mit dem von Houellebecq entworfenen Zukunftsbild sympathisieren, denn es zeigt einen zwar hypothetischen, aber nicht gänzlich unrealistischen „Ausweg“ aus dem Teufelskreis von Kulturrelativismus, Indifferenz und Dekadenz, in dem das von seinen christlichen Wurzeln abgeschnittene wohlfahrtsstaatliche Europa zurzeit gefangen ist.
Der Kern des Plots: Vor der französischen Präsidentschaftswahl von 2022 passieren in Frankreich seltsame Dinge: In Paris brennt es an verschiedenen Plätzen lichterloh. In der Provinz werden Autobahn-Raststätten ausgeraubt und Menschen erschossen. Aber niemand wagt darüber zu berichten. Um den absehbaren Wahlsieg der Präsidentschaftskandidatin des Front National zu verhindern, kommen Ende Mai 2022 die Parteien der Linken und der gemäßigten Rechten überein, die Kandidatur des hochintelligenten und charismatischen Muslimbruders Mohammed Ben Abbes zu unterstützen, der eine aufgeklärte und gemäßigte Version des Islam vertritt. Ben Abbes setzt unverzüglich ein wirtschafts- und sozialpolitisches Programm um, das außer durch die Scharia vor allem durch die sozialtheoretischen Schriften der linkskatholischen Autoren Gilbert Keith Chesterton und Hilaire Belloc inspiriert ist.
Als wirtschafts- und sozialpolitische Leitidee gilt das Subsidiaritätsprinzip, wonach sich staatliche Stellen nur mit solchen Aufgaben befassen dürfen, die von den Familien und den Kommunen nicht gelöst werden können. Staatliche Hilfen für Großkonzerne werden ersatzlos gestrichen. Dafür erhalten Familienunternehmen jede nur denkbare Unterstützung. Die Frauen müssen, mit wenigen Ausnahmen, zurück an den Herd. Dadurch soll es gelingen, die Arbeitslosigkeit zu überwinden und die staatlichen Sozialausgaben in nur drei Jahren um 85 Prozent zu senken. Kein Vertreter klassischer Rechts- oder Linksparteien wäre imstande, ein so radikales Umbau-Programm auch nur anzukündigen! Doch der neue französische Staatspräsident hat damit kein Problem. Ben Abbes wird überdies nachgesagt, er strebe nach noch höheren Weihen: Er möchte direkt gewählter Präsident einer um sämtliche Mittelmeer-Länder erweiterten Europäischen Union werden. Deren Vorbild ist das untergegangene Römerreich.
Unterstützung für sein Programm findet Mohammed Ben Abbes bei einem Teil der (männlichen) Intelligenz. Es gelingt ihm, auch zunächst widerstrebende Angehörige der Intelligenz für sein Projekt zu gewinnen. Wer nicht mitmachen will, wird mit einer großzügigen Rente abgefunden. Insbesondere Sympathisanten der zunächst mit dem Front National sympathisierenden identitären Bewegung sind von der neuen Familienpolitik angetan. Großzügige Gehälter, die es Universitätsprofessoren erlauben, sich Scharia konform drei bis vier (jüngere) Ehefrauen zu leisten, wirken als zusätzliches Argument für die Unterwerfung unter die Scharia und die Unterstützung der muslimisch-linkskatholischen Reformpolitik. Nur die Frauen dürften, abgesehen von den Juden, wohl in ihrer großen Mehrheit davon nicht begeistert sein.
Eigenartigerweise spricht Houellebecq dieses Problem aber in seinem mit vielen subtilen Anspielungen gespickten Roman gar nicht an. Das ist wohl kein Zufall. Wäre Houllebecq darauf eingegangen, hätte er die Kapitulation der politischen Klasse Frankreichs und Europas vor dem Islam wohl nicht nach Art eines Sonntagsspaziergangs zeichnen können. Hätte er aber angedeutet, dass auch die Pläne moderater muslimischer Politiker unweigerlich zu einem Bürgerkrieg führen, hätte er die Feigheit und Verführbarkeit der Pariser Intellektuellen nicht in Form einer positiven Utopie vorführen können. Niemand wird Houellebecq nach diesem Roman Islamophobie vorwerfen können. Im Gegenteil: Im Vergleich zu seinen früheren Äußerungen verharmlost er den Islam sogar. Gleichzeitig überschätzt er wohl die religiöse Indifferenz des materialistischen juste milieu der westlichen Gesellschaften und unterschätzt in gleichem Maße deren Widerstandskraft gegen eine freiheitsfeindliche politische Religion.
(Zuerst veröffentlicht am 15. Januar 2014 bei Kopp)