Edgar Gärtner
Wir alle wissen seit langem, dass die große Mehrheit der Menschen abrupten Veränderungen ihrer Arbeits- und Lebensgewohnheiten ablehnend gegenüber stehen und nach Möglichkeiten des Widerstandes sinnen, wenn diese ihnen von ihren Vorgesetzten oder der politischen Obrigkeit aufgezwungen werden. Die Hirnforschung kann inzwischen ansatzweise erklären, warum das so ist. Denn wir wissen zumindest grob, welche Hirnzentren an welchen Entscheidungen beteiligt sind und wie diese miteinander verschaltet sind. Wir wissen insbesondere, dass das für Gefühle verschiedener Art und für grundlegende Glaubensentscheidungen zuständige limbische System (Hypothalamus, Amygdala, Gyrus cinguli) gegenüber der rational verschalteten Großhirnrinde, dem Cortex, fast immer die Oberhand hat. Kann man daraus schließen, Erkenntnisse der Hirnforschung könnten genutzt werden, um den Menschen Veränderungen durch gezielte Manipulationen schmackhaft zu machen?
Unternehmensberater, die teure Kurse in „Change Management“, „Neuro- Leadership“ oder „Neuro-Marketing“ anbieten, zögern nicht, diese Frage mit einem lautstarken „Ja“ zu beantworten. Einige gehen sogar so weit, gestressten Kunden, die ihr Unternehmen in der Krise neu aufstellen müssen, zu suggerieren, endlich den Stein der Weisen gefunden zu haben. Sie werden dabei bestärkt von Forschern, die selbst den Elfenbeinturm verlassen haben, um mit Unternehmensberatung Geld zu machen. Einer der bei uns bekanntesten ist der früher an der Uni Göttingen lehrende Neurobiologe Gerald Hüther. Das Magazin Wirtschaftswoche nannte ihn kürzlich einen „Pop-Hirnforscher“. Wobei das noch untertrieben ist, weil der Autor marktgängiger populärwissenschaftlicher Bücher längst keine eigene experimentelle Hirnforschung mehr betreibt. Insofern unterscheidet er sich nicht von den fachfremden Unternehmensberatern, die mit eingängigen Schlagworten aus der Neurobiologie und manchmal auch mit Begriffs-Neuschöpfungen wie „Potenzialentfaltung“ hausieren gehen. Hüthers amerikanische Mitbewerberin Tara Swart bietet sogar einen „Neuro-Drink“ auf der Basis von grünem Tee, Gurkenwasser und Kokosöl an – einen Viertelliter für acht Euro.
Hirnforscher der US-Eliteuniversität Yale haben denn auch in einer im Jahre 2008 veröffentlichten Studie darauf hingewiesen, dass der Verweis auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse in der florierenden Management-Erbauungsliteratur vor allem die Menschen anspricht, die von Neurobiologie keine Ahnung haben. Denn bislang hat die Anhäufung neuen Wissens über den Aufbau des menschlichen Hirns nicht dazu geführt, seine Funktionsweise besser zu verstehen. Wir wissen zum Beispiel erst seit wenigen Jahren, dass es verschiedene Formen von Gedächtnis gibt, an denen nicht nur verschiedene Hirnregionen, sondern auch der Darm, unser „zweites Hirn“, beteiligt ist. Erinnert sei hier an das Buch „Darm mit Charme“, mit dem die junge Medizinerin Guilia Enders im vergangenen Jahr einen Bestseller landete.
Was für das Management wirklich wichtig ist, wissen wir bislang weniger aus der neurobiologischen Forschung, sondern eher aus psychologischen Experimenten, bei denen das menschliche Hirn lediglich als Black Box gilt. Der israelisch-amerikanische Psychologe Daniel Kahneman wurde dafür im Jahre 2002 zusammen mit dem Amerikaner Vernon L. Smith mit dem Wirtschafts-Nobelpreis ausgezeichnet. Kahneman hat mit seinen Experimenten gezeigt, dass die der neoklassischen Schule der Nationalökonomie zugrunde liegende Annahme, der Mensch sei ein „homo oeconomicus“, d.h. ein rational abwägendes Wesen, unhaltbar ist. Die Menschen entscheiden vielmehr in der Regel intuitiv, d.h. gefühlsbetont und deshalb auch oft unvernünftig. Aber auch diese Erkenntnis war nicht wirklich neu, denn die so genannte österreichische Schule der Nationalökonomie, zu der neben Friedrich August von Hayek, dem Wirtschafts-Nobelpreisträger von 1974, auch Kahnemans Mit-Laureat Vernon L. Smith gerechnet wird, hatte die Fiktion des „homo oeconomicus“ schon im 19. Jahrhundert überwunden, und zwar in der individualistischen Grenznutzen-Lehre des Galiziers Carl Menger, der als Begründer der österreichischen Schule gilt. Insofern hatte der Neuro-Hype auch etwas Gutes, als er die bei politisch korrekten Keynesianern und Neoklassikern als „rechtslastig“ geschmähte österreichische Schule der Nationalökonomie in gewissem Maße rehabilitierte.
Kahnemans Erkenntnisse werden bekanntlich in der Produkt-Werbung für die unbewusste Beeinflussung von Konsumenten-Entscheidungen durch das so genannte sublimale Priming sowie bei der manipulativen Politik des „Nudging“, d.h. bei Versuchen einer Verhaltenssteuerung durch kleine Stupser genutzt, die auch bei Angela Merkel hoch im Kurs steht. Mit der Überwindung des Konstrukts „Homo oeconomicus“ könnte nun aber auch die Tatsache wieder in den Blickpunkt rücken, dass die Menschen auf bestimmte Reize sehr unterschiedlich reagieren, weil ihre Hirne individuell verschieden funktionieren. Das haben nun Forscher um Emily Finn an der schon genannten Yale Uni in New Haven/Connecticut in der Fachzeitschrift Nature Neuroscience demonstriert. Es gebe „Grund zu der Annahme, dass ein bedeutender Teil der Verbindungen zwischen verschiedenen Hirnzentren bei jedem Individuum einmalig ist“, schreiben Emily Finn und ihre Mitarbeiter.
Ihre Untersuchung fußt auf Daten des Human Connectome Project (HCP), wobei mithilfe der funktionellen Magnetresonanz-Tomografie (fMRT) die Hirn-Scans von Hunderten von Personen aufgezeichnet wurden. Finn und Mitarbeiter werteten die Scans von 126 Teilnehmern aus, die an zwei aufeinander folgenden Tagen in sechs Durchgängen aufgenommen wurden. Und zwar sowohl im Ruhezustand als auch bei der Lösung verschiedener Aufgaben, die Gedächtnisleistungen sowie die Steuerung von Motorik, Sprache und Emotionen erforderten. Durch den Vergleich der Aktivitätsmuster mit den zuvor aufgezeichneten Ruhezuständen konnten die Forscher mit einer Trefferquote von 93 bis 94 Prozent die Träger der Hirnmuster individuell identifizieren. Im Ruhezustand unterschieden sich insbesondere die Verschaltungsmuster der Stirn- und der Scheitellappen der Großhirnrinde der Probanden voneinander. Das sind Hirnregionen, die sich auch noch im Erwachsenenalter durch Lernprozesse verändern. Dabei entstehen individuelle „Fingerabdrücke“ der Hirnleistung, die zur Ausprägung konstanter Persönlichkeitsmerkmale führen. Deshalb gelang den Forschern hier eine individuelle Zuordnung der Scans in 98 bis 99 Prozent der Fälle. In welcher Weise diese Befunde einmal bei der Therapie psychischer Erkrankungen oder bei der beruflichen Ausbildung und Führung von Menschen genutzt werden können, ist zurzeit noch nicht absehbar.
(zuerst veröffentlicht in KOPPexklusiv 43/15)