Medikamente, die töten.

Britische Mediziner erheben sich gegen Big Pharma

Edgar Gärtner

ArterioskleroseWussten Sie, dass Medikamente nach Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebs die dritthäufigste Todesursache sind? Peter Gotzsche, Professor für Versuchsplanung und Analyse an der Universität von Kopenhagen hat im renommierten British Medical Journal (BMJ) vorgerechnet, dass in den USA und in der EU mehr als eine halbe Million Todesfälle von über 65-Jährigen auf eine falsche Medikation zurückgeführt werden können. Die US-Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) hat allein im Jahre 2014 123.000 Todesfälle und 800.000 Fälle gefährlicher Krankheitsverschlimmerung gezählt, die auf die Einnahme ärztlich verschriebener Medikamente zurückgeführt wurden. In erster Linie verantwortlich dafür sei die betrügerische Vermarktungspolitik der großen Pharmakonzerne. Diese Politik könne man, entsprechend den Kriterien des US-Strafrechts, als „organisiertes Verbrechen“ bezeichnen.
Um dagegen anzugehen, hat der unseren Lesern nicht unbekannte britische Kardiologe Dr. Aseem Malhotra nun beschlossen, großes Geschütz aufzufahren. Er konnte für seine Kampagne gegen die Machenschaften von „Big Pharma“ keinen geringeren als Sir Richard Thompson, der der Queen 21 Jahre lang als Leibarzt diente, gewinnen. Eine Zeit lang war Sir Thompson gleichzeitig Präsident des ärztlichen Spitzenverbandes Royal College of Physicians. Immerhin ist die Queen der lebende Beweis dafür, dass Sir Thompson seine Kunst beherrscht. Neben Sir Thompson unterstützen auch der Medizinprofessor John Ashton, der Psychiater Dr. BS Bamrath, die Kardiologin Prof. Rita Redberg vom Medizin-Fachjournal JAMA Internal Medicine und der Pharmakologe Prof. James McCormack die Kampagne.
In einer von der britischen Tageszeitung Daily Mail zitierten Rede vor der Vereinigung indisch stämmiger Ärzte wies Dr. Malhotra darauf hin, dass die großen Pharma-Konzerne zweimal so viel Geld für das Marketing ausgeben wie für die Forschung. Ihre Werbung sei darauf ausgerichtet, die Patienten in ihrem kindischen Glauben zu stärken, dass viel, das heißt etliche gleichzeitig verabreichte Medikamente, viel hilft. Wenn es den Patienten schlechter geht, verdoppelt man eher die Zahl der Medikamente, als welche abzusetzen. Nach seinen Beobachtungen komme etwa ein Drittel der in Hospitäler eingelieferten Patienten über 75 hauptsächlich wegen Medikamentenunverträglichkeit beziehungsweise gefährlichen Nebenwirkungen von Medikamenten. Er habe sich angewöhnt, ältere Patienten zu allererst zu fragen, welche Medikamente sie geschluckt haben.
Besonders bedenklich sei die Praxis der Konzerne, negative Studienergebnisse zu verschweigen. Ein Paradebeispiel dafür sind die inzwischen ins Gerede gekommenen Statine (Cholesterinsenker). Nach einer vor kurzem im Fachmagazin BMC Medicine veröffentlichten Studie setzen etwa 75 Prozent der Patienten, denen die Einnahme von Statinen verordnet worden war, diese innerhalb eines Jahres wieder von sich aus ab. Die meisten von ihnen wegen unangenehmer Nebenwirkungen. Dr. Malhotra weist darauf hin, dass die Testdaten, die der Genehmigung der Statine zugrunde liegen, bis heute nicht vollständig veröffentlicht sind. Neuere in Frankreich und Japan durchgeführte Studien wiesen aber darauf hin, dass Statine das Risiko von Herzanfällen eher vergrößern als vermindern. Umso unverständlicher sei die Tatsache, dass die britische Rationierungsbehörde NICE für das Nationale Gesundheitssystem NHS im Jahre 2014 sogar die Schwelle für die Verschreibung von Statinen gesenkt hat. Das erscheine aber weniger überraschend, wenn man wisse, dass acht von zwölf Mitgliedern des Entscheidungsgremiums der NICE finanziell von Statin-Herstellern abhängig waren.
Als skandalös empfindet Dr. Malhotra auch die Tatsache, dass das NHS beim schweizerischen Pharma-Konzern Roche für fast 500 Millionen Pfund Vorräte des Grippemittels Tamiflu eingekauft hat, obwohl das unabhängige Cochrane-Netzwerk von Medizinforschern festgestellt hat, dass Tamiflu nicht besser wirkt als das erheblich preiswertere und verschreibungsfreie Paracetamol. Außerdem habe es sich herausgestellt, dass der Blutgerinnungstest, der der Zulassung des Blutverdünners Rivoroxaban als Alternative zum „Rattengift“ Warfarin (deutsch: Marcumar) zugrunde lag, mit der falschen Technik durchgeführt wurde. Es sei deshalb mehr als zweifelhaft, ob das neue Medikament wirklich besser ist als das alte, das es ersetzen soll. Ein ernstes Problem seien auch gängige Antidepressiva, die insbesondere junge Manschen in den Selbstmord treiben können.
Dr. Malhotra schließt sich deshalb dem früheren BMJ-Redakteur Richard Smith an, der ein bekanntes Shakespeare-Zitat so abwandelte: „Etwas ist faul in der britischen Medizin und ist es schon seit langem.“ Notwendig sei eine breite politische Debatte über eine andere Organisation der pharmazeutischen Forschung und der Zulassung neuer Medikamente.

(zuerst veröffentlicht in: KOPPexklusiv 9/16)