Johannes Fried: Dies irae. Eine Geschichte des Weltuntergangs. 352 S. m. 26 s/w- und 19 farb. Abb. Verlag C.H.Beck, München 2016. Geb. € 26,95
Die Behauptung, die moderne Wissenschaft habe sich nur in einem christlichen Umfeld entwickeln können, trifft neuerdings auf Widerspruch von verschiedenen Seiten. Für den bekannten Mediävisten Johannes Fried (bis zu seiner Emeritierung Professor an der Frankfurter Goethe-Universität), steht hingegen der enge geistige Zusammenhang zwischen dem Christentum und der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Methodik außer Frage. Er sieht diesen Zusammenhang jedoch weniger in der von den Kirchenvätern Augustinus und Thomas von Aquin von Platon und Aristoteles übernommenen Überwindung des Mythos durch den Logos, sondern in der von der Apokalypse des Johannes und der Zerstörung des zweiten Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n. Chr. ausgehenden Endzeiterwartung, die bis zum heutigen Tag fortwirkt. Die Bibel sagt nur, das Ende könne jeden Tag kommen und die Christen sollten sich durch eine anständige und liebevolle Lebensführung auf die Wiederkunft Christi und das Jüngste Gericht vorbereiten. Jüngere Gelehrte schlugen jedoch Augustinus‘ Warnungen in den Wind und gaben dem Reiz des Verbotenen nach, indem sie auszurechnen versuchten, wie viele Jahre seit der angenommenen Erschaffung der Welt vor wenigen Jahrtausenden bis zum Weltende noch übrig blieben oder hielten nach kosmischen Zeichen Ausschau, die den nahenden Untergang ankündigten. Das waren (neben der Rezeption von Schriften des Aristoteles) die wichtigsten Anstöße für die im 12. Jahrhundert aufblühende Naturforschung. Schon Karl der Große und sein Berater Alkuin hatten sich mit großem Eifer um eine Verbesserung des Kalenders gekümmert. Durch die Beobachtung der Tag- und Nachgleichen und der Gestirne war aufgefallen, dass der julianische Kalender dem realen Zeitlauf hinterherhinkte und dass christliche Feiertage folglich zur falschen Zeit begangen wurden. Erst die auf strenger Naturbeobachtung beruhende, noch heute gültige gregorianische Kalenderreform von 1582 bereinigte diese Probleme durch die Streichung von 10 Tagen und die Einführung von Schaltjahren weitgehend. Dagegen regte sich jedoch Widerstand seitens der inzwischen auf den Plan getretenen Lutheraner. Diese hielten den neuen Kalender zwar nicht für falsch, aber wegen des ihrer Ansicht nach ohnehin bevorstehenden Weltendes für überflüssig. Luthers Reformation wurde von ihnen ja selbst als apokalyptischer Vorgang gedeutet – allerdings im Zeichen der Hoffnung. Nicht wenige von der Amtskirche als Häretiker gebrandmarkte Prediger wie Thomas Müntzer und andere sahen in der vermeintlich nahenden Apokalypse das Signal für den sozialen Aufstand. In der römisch-katholischen Kirche hingegen spielte die Apokalypse nach dem ökumenischen Reformkonzil von Trient (1545 bis 1563) keine große Rolle mehr. Das für das Abendland charakteristische apokalyptische Lebensgefühl verschwand aber auch während der Aufklärung nicht. Im Gegenteil: Die Newtonsche Physik und selbst die Philosophie Kants vertrugen sich bestens damit. Heute erlangen spekulative Computersimulationen über das Versiegen von Rohstoffquellen oder die Aufheizung des Klimas vor allem deshalb eine so große Glaubwürdigkeit, weil sie auf ein Publikum treffen, das die lineare Geschichtsauffassung des Christentums und 2000 Jahre apokalyptische Kultur verinnerlicht hat. Außerhalb der abrahamitischen Religionen herrschen dagegen zyklische Auffassungen von Werden und Vergehen vor. In Asien und Afrika denkt bei großen Naturkatastrophen kaum jemand an den Weltuntergang. Johannes Fried bringt das auf den Punkt, wenn er schreibt: „Selbst Muslime, die durchaus die Botschaft vom Jüngsten Gericht, von Paradies und Hölle kennen, reflektieren…über keinen Weltuntergang. Denkt der ‚Westen‘ stellvertretend für die ganze Menschheit?“ Manche Rezensenten haben Fried die feine Ironie, mit der er über Klimamodelle und andere Untergangsprognosen spricht, übelgenommen. Aber sein distanzierter, manchmal beinahe ermüdend detailreicher Überblick über die seit über 2.000 Jahren vergeblich erwartete Apokalypse, wobei er auch ausführlich auf deren Rolle in den schönen Künsten eingeht, zeigen, dass die zeitgenössischen Untergangs-Prophezeiungen sich von ihren mittelalterlichen Vorläufern nicht qualitativ unterscheiden.
Edgar L. Gärtner
(veröffentlicht in: eigentümlich frei Nr. 164)