Wo Max Weber irrte

Max Weber (1864 – 1920) | © BSB/Bildarchiv

Nicht der Protestantismus, sondern der Katholizismus hat den Kapitalismus erfunden

von Edgar L. Gärtner
Die Wirkungsgeschichte von Max Webers vielfach zitierter Arbeit über die protestantische Ethik und den „Geist des Kapitalismus“ zeigt anschaulich, wie auch in der ach so aufgeklärten Moderne Mythen entstehen, die mit faktischen Einwänden kaum zu erschüttern sind. Der französische liberale Ökonom und Wirtschaftsjournalist Philippe Simonnot hat in seiner bewegten Laufbahn wiederholt vorgeführt, wie man auch die zähesten Mythen zerpflücken kann – und zwar durchaus nicht lediglich im Sinne einer postmodernen „Dekonstruktion“, die sich aufs Denunzieren egoistischer Motive von Autoritäten verlegt. Simonnot verfügt über phänomenales Wissen über ideengeschichtliche Zusammenhänge, insbesondere über die innigen Beziehungen zwischen Religion und Wirtschaft. Selbst Adam Smith, der Säulenheilige aller Liberalen, musste dabei schon Federn lassen.
In seinem erstmals 1998 erschienenen und 2017 aktualisierten Buch „Nouvelles leçons d’économie contemporaine“ schreckt Simonnot nicht davor zurück, auch den deutschen Soziologie-Papst Max Weber vom Sockel zu kippen. Er wirft ihm vor, in seiner oben genannten Schrift die Ideengeschichte vor dem Auftritt Martin Luthers nicht berücksichtigt zu haben. Mit anderen Worten: Weber sei der spezifisch deutschen Geschichtsbetrachtung verhaftet geblieben, wonach die Moderne mit der Reformation beginnt. Außerdem sieht Simonnot bei Weber Einflüsse des von Luther gepflegten Antisemitismus, wenn dieser das „gute“ schaffende, von der protestantischen Ethik geleitete Kapital vom „bösen“ raffenden (jüdischen) Finanzkapital unterschied.
Zwar stimme es, dass die katholische Kirche, im Unterschied zum Judentum und zum Islam, sehr lange brauchte, um sich mit der Marktwirtschaft anzufreunden, dennoch sei sie die eigentliche Erfinderin des Kapitalismus und über Jahrhunderte die erste kapitalistische Großmacht gewesen, behauptet Simonnot. Voraussetzung der Kapitalbildung ist bekanntlich ein eindeutiger Eigentumsbegriff. Den gab es nur im römischen Recht, das drei Arten der Eigentumsverwendung unterschied: Usus, Fructus und Abusus (sein Eigentum genießen, daraus Profit ziehen und es veräußern). Doch nach dem Untergang des weströmischen Reiches dauerte es etliche Jahrhunderte, bis in Westeuropa wieder einigermaßen klare Rechtsverhältnisse geschaffen waren. In der Rechtsprechung wurde nicht selten Nachsicht („Kultur-Rabatt“) gegenüber archaischen tribalistischen Sitten und Gebräuchen geübt. Zwar gab es schon unter dem Franken-König Karl dem Großen beziehungsweise dessen persönlichen Berater Einhard Versuche, Elemente des römischen Rechts im Frankenreich einzuführen. Doch erst die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 und der davon inspirierte Code civil Napoleons gelten gemeinhin als eindeutige Zeichen der siegreichen Wiedereinführung des römischen Rechts in Westeuropa. Diese Auffassung folgt aber lediglich dem Mythos, die französische Revolution sei ein radikaler Bruch mit dem „finsteren Mittelalter“ gewesen.
Weit davon entfernt, die Bedeutung der genannten Dokumente zu unterschätzen, sieht Philippe Simonnot die entscheidende Weichenstellung in Richtung auf den Kapitalismus dennoch schon im 12., 13. Und 14. Jahrhundert. Der aus Sachsen stammende und in Paris lehrende Theologe Hugo von St. Viktor (1097-1141) und der ebenfalls in Paris lehrende englische Franziskaner Alexander von Hales (1185-1245) machten darauf aufmerksam, dass der Mensch im 1. Buch der Genesis von Gott als Gottes Ebenbild erschaffen und als „Herr der Welt“ das heißt als deren Eigentümer eingesetzt wird. Der Mensch stehe somit über allen anderen Kreaturen, habe die Aufgabe, sich die Erde und die übrigen Geschöpfe untertan zu machen und sei deshalb mitverantwortlich für die Ordnung und die Schönheit des Universums. Der auch in Paris lehrende Dominikaner Thomas von Aquin (1225-1274) hat dieses Welt- und Menschenbild in seiner „Summa theologica“ verteidigt und ausgebaut. Doch Philippe Simonnot wirft ihm in seinem im Jahre 2004 erschienenen Buch „L’Erreur économique“ vor, das Eigentumsrecht dem nicht definierbaren „Gemeinwohl“ untergeordnet zu haben.
Ganz anders sah das der aus dem wohlhabenden südwestfranzösischen Weinbau-Gebiet Cahors stammende Jaques Duèze (1244-1334), der ab 1316 in Avignon als Papst Johannes XXII. residierte. Der zweite Avignon-Papst verurteilte aufs schärfste den Proto-Kommunismus des heiligen Franz von Assisi, weil er darin den Keim der Auflösung jeglichen gesellschaftlichen Zusammenhalts sah. Er lehrte, das Eigentumsrecht dürfe keiner Einschränkung unterworfen werden, da es göttlichen Ursprungs sei. Duèze machte den Papstsitz von Avignon durch den Aufbau eines effizienten Systems der Erhebung von Kirchensteuern zur ersten kapitalistischen Großmacht. Kein Wunder, dass Papst Johannes XXII. und seine Nachfolger im Papst-Palais zu Avignon in der Kirchengeschichte als höchst „umstritten“ gelten. Das gilt besonders für den letzten der Avignon-Päpste, Pedro La Luna von Aragón, der an der Universität von Montpellier Kirchenrecht gelehrt und von 1394 bis 1423 als Papst Benedikt XIII. regiert hat – am Ende allerdings nicht mehr in Avignon, sondern auf der militärisch nicht einnehmbaren Halbinsel Peñiscola bei Valencia an der aragonischen Mittelmeerküste. Pedro La Luna war ein starker Mann, der nicht nur theologisch versiert war, sondern auch gut mit Schwert und Bogen umgehen konnte.
In der quasi offiziellen Geschichtsschreibung werden die Avignon-Päpste noch immer einhellig als „Gegenpäpste“ bezeichnet. Tatsache ist jedoch, dass der Papstsitz zu Beginn des 14. Jahrhunderts auf Einladung des französischen Königs nach Avignon verlegt wurde, weil Rom, auf gut deutsch gesagt, unter die Räuber gefallen war. Die Fürsten und Bischöfe des konkurrierenden Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation sorgten dann dafür, dass der Papstthron in Rom ab 1378 wieder mit einigermaßen vorzeigbaren Würdenträgern (Urban VI., Bonifatius IX., Innozenz VII. und Gregor XII.) besetzt wurde. Doch keiner von ihnen konnte den Avignon-Päpsten Clemens VII. (1378 -1394) und Benedikt XIII. das Wasser reichen. Ab 1409 wurden gar mit Alexander V. und Johannes XXIII. in Pisa noch weitere Päpste gewählt, so dass es bis zum Konzil von Konstanz (1414-1418) für einige Jahre gleichzeitig drei Päpste gab. Diese auf Betreiben von König Sigismund einberufene Versammlung von etwa 3.000 Bischöfen, Ordensleuten und Doctores, die wegen des dort florierenden horizontalen Gewerbes in die Weltliteratur eingegangen ist, sollte die als „Großes abendländisches Schisma“ bekanntgewordene Situation durch die Wahl eines neuen Papstes bereinigen. (In Wirklichkeit legte das Konzil von Konstanz mit der Verbrennung des böhmischen Kirchenreformers Jan Hus den Keim für ein noch größeres Schisma: für Luthers Reformation und den nachfolgenden dreißigjährigen Krieg.) Doch Benedikt XIII. weigerte sich, im Unterschied zu Johannes XXIII., zurückzutreten, zumal er gar nicht nach Konstanz eingeladen worden war. Die Geschichte von Papst Benedikt XIII. und seiner (z.T. fiktiven) Nachfolger kann man übrigens nachlesen in Jean Raspails historischen Roman „Der Ring des Fischers“, dessen deutsche Übersetzung vor anderthalb Jahren endlich im Verlag Antaios erschienen ist.
Kommen wir nach dieser kurzen Abschweifung über die im deutschen Sprachraum wenig bekannten Avignon-Päpste zurück zur Argumentation Philippe Simonnots. Die von Papst Johannes XXII. angestoßene Klärung des Eigentumsrechts reichte nicht hin, um der kapitalistischen Marktwirtschaft den Weg freizumachen. Ihr stand als gewichtiges Hindernis das Zins- bzw. Wucherverbot entgegen. Dieses Verbot wirkte umso abschreckender, als die Kirche bis ins 12. Jahrhundert noch nicht zwischen Todsünden und lässlichen Sünden unterschied. Es gab also keine Verhältnismäßigkeit zwischen der Schwere eines Vergehens und der drohenden Strafe. Wer einem Reisenden den Schädel einschlug, um ihn auszurauben, den erwartete die gleiche Höchststrafe, die ewige Verdammnis, wie jemanden, der seinen Geschäftspartner lediglich geschickt übers Ohr gehauen hatte. Wer seiner Nachbarin nur lüstern hinterher schaute, war ebenso reif für die Hölle, wie wenn er gleich mit ihr ins Bett gegangen wäre. Um Abstufungen in der Schwere von Verfehlungen möglich zu machen, musste es zwischen Himmel und Hölle eine weitere Instanz geben, das Purgatorium (auf Deutsch etwas unglücklich mit Fegefeuer übersetzt). Dieses winkte kleinen Sündern, die obzwar im Stande der Gnade verstorben, noch eine Reststrafe zu verbüßen hatten, bevor sie Gott schauen durften. Zwar gab es schon bei den Kirchenvätern der Spätantike wie Tertulllian, Origenes und Augustinus von Hippo sowie später bei Papst Gregor dem Großen Hinweise auf eine solche Instanz, aber der Begriff „Purgatorium“ taucht, wie der französische Historiker Jacques Le Goff (1981) nachgewiesen hat, erst im Jahre 1133 bei Hildebert von Lavardin, dem damaligen Erzbischof von Tours, auf. Und erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts findet der Begriff Eingang in den Sprachschatz der Pariser Intelligenzia. Als offizieller Bestandteil der Lehre der katholischen Kirche anerkannt wurde das Purgatorium schließlich im Jahre 1274 auf dem 2. Konzil von Lyon und in der Bulle „Benedictus Deus“ des Avignon-Papstes Benedikt XII.
Wichtiger Bestandteil der Lehre vom Purgatorium war die Annahme, dass die Menschen durch Beten und (freiwillige!) Werke der Nächstenliebe die Qualen der Reinigung für sich selbst und andere abkürzen konnten. Dieser Glaube wurde zur Basis für die Kapitalbildung durch einen florierenden Ablasshandel. Das mit der Lehre vom Fegefeuer eingeführte Prinzip der Verhältnismäßigkeit erlaubte es gleichzeitig, das Zinsverbot zu umgehen, denn Wucher galt danach allenfalls als lässliche Sünde. Der Zins wurde von nun an als Preis für das von den Gläubigern eingegangene Risiko beziehungsweise als Entschädigung für entgangene Gewinnmöglichkeiten begriffen. Es ist sicher kein Zufall, dass der erste Versicherungsvertrag aus dieser Zeit (1287) überliefert ist.
Für Philippe Simonnot steht es deshalb außer Zweifel: Es war die Erfindung des Fegefeuers, die dem Kapitalismus den Weg gebahnt hat. Die protestantische Ethik kann nicht ausschlaggebend für das Aufkommen des Kapitalismus gewesen sein, zumal Luther nach anfänglicher Zustimmung die Lehre vom Fegefeuer als Teufelswerk abgelehnt hat. Dem widerspricht auf den ersten Blick die Beobachtung, dass sich der Kapitalismus später in protestantischen Regionen viel besser entwickelte als in katholischen. Mit diesem Paradox werde ich mich vielleicht ein andermal beschäftigen.

(zuerst veröffentlicht am 21. März 2018 in: The European