Frankreich: Wird die Kernkraft der Postmoderne geopfert?

Das KKW Fessenheim wird wahrscheinlich als erstes stillgelegt.

Edgar L. Gärtner

KKW Fessenheim (Foto EdF)

Da die Kernenergie, bezogen auf die gelieferte Arbeit (gemessen in Tera-, Giga-, Mega- oder Kilowattstunden), von allen Methoden der Elektrizitätserzeugung die bei weitem geringste Zahl von Todesopfern fordert, muss sie verboten werden. Diese abgründige Logik findet inzwischen auch in unserem Nachbarland Frankreich immer mehr Anhänger. Dabei galt das Land einmal, zum Kummer aller Grünen, mit einem Anteil von 75 bis 80 Prozent Atomenergie an der gesamten Elektrizitätsproduktion, als Sehnsuchtsort all jener, die von einer zuverlässigen und obendrein preisgünstigen Stromversorgung träumen. Das ist längst vorbei. Die obskurantistische Postmoderne, ohnehin eine Erfindung französischer Intellektueller, hat auch in Frankreich seit der Pariser Studentenrevolte von 1968 viele Gehirne verwirrt und vernebelt.
In den Nachkriegs-Jahrzehnten stand die französische Linke, insbesondere die mitgliederstarke und gut organisierte Kommunistische Partei, zunächst wie ein Mann hinter dem französischen Nuklearprogramm (einschließlich seiner militärischen Komponente). Das galt noch bis weit in die 1990er Jahre. Selbst die Reaktor-Havarie von Tschernobyl im Frühjahr 1986, die in Deutschland für Panik sorgte und zum Signal für den „Atom-Ausstieg“ wurde, verursachte in Frankreich zunächst kaum Irritationen. Angeblich hatte die radioaktive Wolke am Rhein Halt gemacht, so dass die französischen Wochenmärkte geöffnet blieben. Heute wissen wir, dass die Franzosen damals durchaus richtig lagen, denn seriöse wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass Radioaktivität bis zu einer kritischen Dosis nicht schädlich ist, sondern im Gegenteil sogar vitalisierend wirkt. Doch seit der Jahrtausendwende ticken auch in Frankreich die Uhren immer mehr im EU-Gleichklang. Auch die Franzosen wurden inzwischen von der irrationalen Angst vor Radioaktivität erfasst.
Davon zeugt zum Beispiel der vor kurzem vorgestellte Abschlussbericht einer Untersuchungskommission der Nationalversammlung (nach deren Vorsitzenden Rapport Pompili genannt). Dort werden die vorhandenen französischen Kernkraftwerke systematisch als technisch veraltet und störanfällig dargestellt, obwohl alle sowohl von der unabhängigen Reaktorsicherheitskommission ASN als auch von der Internationalen Atomenergie-Agentur IAEA für sicher erklärt wurden und obwohl die Laufzeit baugleicher Reaktoren in den USA von 40 auf 60 Jahre verlängert wurde.
Das zurzeit älteste französische Kernkraftwerk bei Fessenheim im Elsass soll wohl als erstes abgeschaltet werden, und zwar nicht, weil es als besonders störanfällig gilt, sondern weil es einem Abkommen entgegensteht, das die sozialistische Partei im Präsidentschaftswahlkampf von 2012 mit der Mini-Partei der Grünen geschlossen hat, um sich deren Stimmen zu kaufen. Im danach verabschiedeten Gesetz über die Energiewende und das grüne Wachstum (Loi de transition énergétique pour la croissance verte) wurde die Höchstleistung der Kernkraftwerke auf dem damals erreichten Stand von 62.200 Megawatt festgeschrieben. Da das ursprünglich vom staatlichen französischen Reaktorkonzern Areva gemeinsam mit Siemens konzipierte Kernkraftwerk mit „fortschrittlichen Druckwasser-Reaktor der 3. Generation“ (einschließlich Core-Catcher zur Meisterung einer Kernschmelze) bei Flammanville in der Normandie mit einer Leistung von 1.800 MW nach langen Verzögerungen nun villeicht im Jahre 2020 seinen Betrieb aufnehmen kann, sollen die beiden 40 Jahre alten Reaktoren von Fessenheim mit je 900 MW Leistung stillgelegt werden, um den gesetzlichen Vorgaben zu genügen. Es steht dem französischen Strom-Monopolisten Électricité de France (EdF) aber im Prinzip frei, anstelle von Fessenheim auch andere Kapazitäten vom Netz zu nehmen. Würde Fessenheim abgeschaltet, würde dadurch das Stromversorgungs-Ungleichgewicht zwischen Nord- und Süddeutschland noch erheblich verstärkt. Ein völliger Zusammenbruch des Netzes (Blackout) würde wahrscheinlicher.
Der erste Kernreaktor der 3. Generation (EPR) nimmt übrigens in China seinen Betrieb auf. Die Zukunft des Reaktortyps von Flammanville gilt dennoch als ungewiss, denn die hier erzeugte Elektrizität wird erheblich teurer kommen als die aus herkömmlichen Druckwasserreaktoren. Französische Ingenieure beklagen schon länger, dass Ihnen das aufwändige Sicherheitskonzept der dritten Reaktorgeneration mit mehrfacher Redundanz während des zeitweiligen Zusammengehens von Areva und Siemens von deutschen Behörden aufgenötigt wurde. Es gibt preisgünstigere technische Alternativen wie die passive Kühlung des Reaktorkerns, die bei Fachleuten als ebenso sicher gelten.
Dank des hohen Anteils der Kernenergie liegt die durchschnittliche CO2-Produktion je Kilowattstunde in Frankreich zurzeit bei 50 Gramm. Das ist lediglich ein Zehntel der entsprechenden Kennziffer Deutschlands, wo noch immer über die Hälfte des Stroms mithilfe von Kohle und Erdgas erzeugt wird. Gleichzeitig garantiert der hohe Atomstromanteil den Franzosen niedrige Strompreise. Im Jahre 2008 kostete die Kilowattstunde vor Steuern im Schnitt 7,82 Cent. In diesem Jahr sind es 9,08 Cent. Von solchen Strompreisen können wir Deutsche nur träumen. Ganz anders als der Strompreis, der in zehn Jahren nur um 12 Prozent gestiegen ist, hat sich in der gleichen Zeit der Zuschlag zur Finanzierung der „Erneuerbaren“ (CSPE, Contribution au service public pour l‘électricité) entwickelt. Er stieg von 0,45 Cent im Jahre 2008 auf 2,25 Cent im Jahr 2018, hat sich also verfünffacht. Ohne die ihnen aufgebrummte CSPE wäre der Strompreis für Endverbraucher seit 2010 konstant geblieben.
Der von Staatspräsident Emmanuel Macron mit Bedacht zum Minister für die ökologische und solidarische Energiewende und Vize-Premier ernannte TV-Produzent und Publikumsliebling Nicolas Hulot orientiert sich stark an der deutschen Energiewende, ohne zu berücksichtigen, dass diese von Anfang an eine Totgeburt war. Zwar wurde er inzwischen in seinem Eifer, möglichst viele Kernkraftwerke stillzulegen, vom Staatschef gebremst. Doch fährt er fort, gleichzeitig für E-Autos und für den Atomausstieg zu werben. Dabei würden gerade bei einer erfolgreichen Verbreitung von E-Autos zusätzliche Kernkraftwerke gebraucht. Die beiden Reaktoren von Fessenheim, deren Stilllegung Hulot fordert, würden z.B. ausreichen, um jeden Tag mindestens 400.000 E-Autos aufzuladen.
Wie auch bei uns geht in Frankreich von den angeblich erneuerbaren Energien eine große Faszination aus. Nicolas Hulot schürt die Illusion, eines Tages könne ein Land wie Frankreich ohne Wohlstandseinbuße zu hundert Prozent mit „Erneuerbaren“ versorgt werden. Diese Illusion konnte nur aufkommen, weil die Debatte um den zukünftigen Energie-Mix in den audiovisuellen Massenmedien auf die Endenergie Elektrizität verengt wurde und Heizung und Transport außen vor blieben. Doch trotz des hohen Anteils der Kernenergie an der Elektrizitätsproduktion beruht auch Frankreichs Primärenergie-Versorgung zu über zwei Dritteln auf so genannten fossilen Energieträgern. Daran dürfte sich in absehbarer Zeit kaum etwas ändern. Da Manuel Macron den Ehrgeiz seines Energiewende-Ministers in Sachen „Atom-Ausstieg“ ohnehin schon gebremst hat, ist überdies nicht zu erwarten, dass in den kommenden Jahrzehnten neben Fessenheim (oder vielleicht Tricastin im Rhône-Tal) weitere Nuklear-Standorte geopfert werden. Denn das würde die Pläne der französischen Elite, Deutschland wirtschaftlich auszutricksen und Westeuropa der französischen Bürokratie zu unterwerfen, konterkarieren.