Die Antibiotika-Forschung geht weiter dank KI

Die Antibiotika-Forschung geht weiter dank KI

Edgar L. Gärtner

Am 10. Januar habe ich hier das Ende der Antibiotika angekündigt. Einige Leser zeigten sich dadurch beunruhigt, wenn nicht schockiert. Im Kern ging es in diesem Beitrag lediglich darum aufzuzeigen, dass die kostspielige Entwicklung marktreifer Antibiotika in den letzten Jahrzehnten wegen rasch aufkommender Resistenzen immer riskanter geworden ist und sich deshalb immer mehr Global Players aus diesem Geschäft zurückgezogen haben. Das bedeutet nicht, dass auch die Suche nach neuen Antibiotika-Wirkstoffen im gleichen Maße eingeschränkt wurde. Vielmehr eröffnet die Verbindung der neuen Disziplin synthetische Biologie mit lernfähiger Computer-Software (Künstliche Intelligenz, KI) ganz neue Wege, um interessante chemische Verbindungen aufzuspüren.

Nun ist es einem Team am berühmten Massachusetts Institut of Technology (MIT) unter Leitung von James J. Collins erstmals gelungen, mithilfe von KI ein hoch wirksames neuartiges Antibiotikum namens Halicin zu entwickeln. Der Aufsatz mit dem Titel „A Deep Learning Approach to Antibiotic Discovers“ erschien am 20. Februar 2020 im Fachmagazin „Cell“ Damit das Computerprogramm, ein so genanntes neuronales Netzwerk, lernen konnte, was als Antibiotikum in Frage kommt, fütterten die Forscher zunächst eine Datenbank mit den Formeln von 2.335 Molekülen, deren antibakterielle Wirkung schon bekannt war. Darunter befanden sich sowohl 300 zugelassene synthetische Antibiotika als auch 800 antibakterielle Naturstoffe aus Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen. Das Computermodell lernt, Stoffwirkungen unabhängig von der chemischen Struktur vorherzusagen. Das ermöglicht es ihm, Stoffe abseits von überkommenem Expertenwissen in Erwägung zu ziehen.

Die Forscher benutzten dann das auf diese Weise scharf gemachte Programm, um eine große Stoffdatenbank mit Daten von etwa 6.000 Stoffen auf mögliche Kandidaten für die Entwicklung neuer Antibiotika zu überprüfen. Als virtueller Testorganismus diente das gemeine Darmbakterium Escherichia coli. Ausgewählt wurden von vornherein nur Stoffe, die bekannten Antibiotika möglichst wenig ähnelten. Eine Auswahl von 100 Stoffen wurde dann auch physisch getestet. Dabei schnitt ein Stoff am besten ab, der zuvor bereits als möglicher Diabetes-Wirkstoff in Erwägung gezogen worden war. Die Forscher tauften ihn „Halicin“ (nach dem intelligenten Computer HAL im Spielfilm „2001: A Scace Odyssey“). Dieses Molekül erwies sich gegen eine breite Palette von Krankheitserregern wirksam: von Clostridium difficile und Mycobacterium tuberculosis bis zu Acinetobacter baumannii, das als multiresistent gilt. Lediglich gegen den gefährlichen Lungen-Keim Pseudomonas aeruginosa blieb das neue Bakterium unwirksam.

Die bisher bekannten Antibiotika wirkten in der Regel, indem sie Enzyme blockierten oder ausschalteten, die für den Aufbau der Zellwand, die DNA-Reparatur oder die Protein-Synthese notwendig sind. Solche Stoffwechselstörungen können durch kleine Punkt-Mutationen wieder aufgehoben werden. Das erklärt das rasche Auftreten von Resistenzen gegen solche Antibiotika. Halicin hingegen blockiert eine Protonen-Pumpe in der Zellwand, mit deren Hilfe die Bakterien ein elektrochemisches Potenzial aufbauen, das der Erzeugung von Adenosintriphosphat (ATP), dem „energetischen Kleingeld“ der Zelle, dient. Um diesen Mechanismus zu reparieren, müssten die Bakterien gleich mehrfach mutieren. Deshalb scheint das rasche Auftauchen von Resistenzen in diesem Fall als wenig wahrscheinlich. Die Forscher überprüften das, indem sie Halicin 30 Tage lang mit E. coli testeten. In dieser Zeitspanne trat kein einzige Resistenz auf. Gleichzeitig stellten die Forscher in Tierversuchen fest, dass das neue Antibiotikum gut verträglich ist.

Diese Befunde dürften sich als großer Trumpf bei der Suche nach Partnern für die Finanzierung aufwändiger klinischer Tests und bürokratischer Zulassungsverfahren erweisen. Bisher erwies sich diese Phase als Flaschenhals für die Vermarktung neuer Antibiotika, denn deren Kosten in Höhe von Hunderten von Millionen Dollar rechnen sich nur, wenn das Auftreten von Resistenzen wenig wahrscheinlich bleibt. So könnte sich die unkonventionelle Wirkstoff-Suche mithilfe von KI als Rettung der Antibiotikaforschung erweisen.
doi: 10.1038/d41586-020-00018-3

 

(Zuerst veröffentlicht in „European Scientist“ am 28. Februar 2020)