Gegen Geschichtsblindheit

Cora Stephan: Über alle Gräben hinweg. Roman einer Freundschaft. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 429 Seiten. € 24,-

Romane werden hauptsächlich für Frauen geschrieben, weil Männer (leider) kaum noch Bücher lesen. Das ist selbstverständlich auch der in Mittelhessen und Zentralfrankreich lebenden Historikerin und Publizistin Cora Stephan bekannt. Aber Cora richtet ihre belletristische Produktion sicher nicht in erster Linie nach Kriterien des Marketing aus. Gleichwohl passten ihre beiden Margo-Romane ganz gut in dieses Schema. Alles drehte sich dort um (mehr oder weniger) starke Frauen. Das ist bei ihrem neuen Roman über die unverbrüchliche Männerfreundschaft zwischen einem schlesischen und einem schottischen (Klein-) Adeligen sicher ganz anders, obwohl auch hier fast nur Frauen positive Rollen spielen. Dennoch würde es Cora zu Recht von sich weisen, als Feministin (im heutigen Sinn) betitelt zu werden. Denn ihr Anliegen ist nicht der Kampf zwischen den Geschlechtern, sondern der noch weitaus schwierigere Kampf um die historische Wahrheit über die Ursachen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts.

Inhaltlich beginnt der neue Roman zeitlich vor den beiden Margo-Romanen. Es gibt deshalb nur punktuelle Überschneidungen mit ihnen. Aber es handelt sich um die gleiche Geschichte. Die tiefe Freundschaft zwischen den beiden Protagonisten, dem niederschlesischen Rittergut-Erben Alard und dem schottischen Castle-Erben Liam, beginnt eigentlich in Heidelberg, wo die Väter der beiden zusammen studierten, tranken und sich schätzen lernten. Die beiden, der Schotte Alex und der Schlesier Ludwig, waren konservativ eingestellt, aber nicht sonderlich politisiert. Beide verband eine gesunde Skepsis gegenüber den Versprechungen der großen Politik. Doch der 1914 traumtänzerisch begonnene Erste Weltkrieg trennte sie räumlich und politisch, ohne allerdings ihre persönliche Freundschaft wirklich auf die Probe zu stellen. Als Deutschland nach dem Krieg infolge des Versailler Diktats und der dadurch verursachten Hyper-Inflation ins Elend versank, ermöglichte Alex seinem Paten-Kind Alard ein Studienjahr im renommierten Cambridge.

Erst bei der ruhigen Lektüre juristischer Klassiker in der Wren Library von Cambridge und bei einem Besuch des Moray Castle von Liams Eltern in Schottland wird dem Jura-Studenten Alard so richtig die Ungeheuerlichkeit des in Versailles beschlossen Diktats bewusst. Im Westfälischen Frieden von Münster und Osnabrück, mit dem der schreckliche 30-jährige Krieg sein Ende fand, hatte man mit der Formel „Vergeben und vergessen“ bewusst vermieden, eine Kriegspartei für die Massaker verantwortlich zu machen. Deutschland als Ganzes sah sich hingegen nach 1919 international geächtet und der Vernichtung preisgegeben. (Ähnlich sehen sich Wladimir Putin und seine Anhänger heute nach über einem Jahr Ukraine-Krieg.) Das hatte es bis dahin noch nie gegeben. Das Unheil nahm seinen Lauf. Denn auf friedlichem und demokratischem Wege schien Deutschland nicht mehr gerettet werden zu können. Es kam 1939 zu einem noch schlimmeren Weltbrand. Die beiden Freunde konnten immerhin vermeiden, an der Front als Kanonenfutter verheizt zu werden. Alard rettete sich in das von Altadligen dominierte Berliner Auswärtige Amt, Liam in den britischen Geheimdienst SIS. Beide treffen sich im spanischen Bürgerkrieg, um eine für den Frieden engagierte Fotografin zu retten. Die Devise „Lieber Franco als Stalin!“ zeigt, wie schwierig die Abwägung zwischen zwei Übeln damals war. Wenig glücklich blieben unter diesen Bedingungen auch die Liebesgeschichten der beiden Freunde, von denen ich hier nichts weiter verraten möchte.

Cora Stephan zeigt anschaulich, dass der Weg in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs dennoch alles andere als unvermeidlich war, denn es gab durchaus ernsthafte diplomatische Friedensinitiativen. Der in liberalen Kreisen noch immer verehrte Winston Churchill erscheint hingegen als übler Kriegstreiber, der skrupellos auf die Zusammenarbeit mit Stalin setzt, um Hitler in die Falle des aussichtslosen Angriffs auf die Sowjetunion zu locken. Hitlers Angebot eines Separatfriedens mit England erscheint im Roman dagegen eher als seriös. Dazu gehörte, dass er die beim nordfranzösischen Dünkirchen eingekesselten britischen Truppen entgegen jeglicher militärischer Logik entkommen ließ. Die Hauptfiguren des Romans nehmen auch die noch immer geheimnisumwobene „Friedensmission“ des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß in Form einer Fallschirmlandung über Schottland durchaus ernst. Es gibt in diesem Roman selbstverständlich keine Anspielungen auf den aktuellen Ukraine-Krieg. Aber diese drängen sich einem bei der Lektüre auf. Leider lassen sich daraus keine optimistischen Schlüsse hinsichtlich der Beendigung dieses Bruderkrieges ableiten.

Cora Stephans Roman strotzt geradezu von Menschen- und Geschichtskenntnis. Leider stellen sich diese bei den meisten Menschen, wenn überhaupt, erst in fortgeschrittenem Alter ein. Deshalb erscheint es als wünschenswert, dass dieser flott geschriebene Roman auch jüngere Leser findet. Denn bei den unter 40-Jährigen nimmt die Geschichtsblindheit, wie die „feministische Außenpolitik“ Analena Baerbocks und deren große Zustimmung bei jungen Wählern zeigt, beängstigende Züge an.