Edgar L. Gärtner
Vor wenigen Tagen hat sich das Europa-Parlament nach jahrelangem Hin und Her endlich klar dafür ausgesprochen, die Kernenergie als „grün“, das heißt CO2-frei zu klassifizieren. Nach Ansicht der französischen Tageszeitung „Le Figaro“ ist diese Entscheidung „définitif“. Wir werden sehen…
Jedenfalls bereiten sich Franzosen, die heute noch zu den politischen und wirtschaftlichen Zielen General Charles de Gaulles stehen, schon einmal darauf vor, in Europa wieder eine Führungsrolle zu übernehmen. Schon am 14. November gab der französische Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire den Preis für Atomstrom bekannt, mit dem der Staatskonzern EDF rechnen kann, wenn die mit der EU abgestimmte Tarifregelung ARENH (Accès réglementé à l‘électricité nucléaire historique) Ende 2025 ausläuft. Nach dieser Regelung, die verhindern soll, dass Frankreich wegen seines Strom-Monopols von der EU bestraft wird, muss EDF ein Viertel bis ein Drittel seines Nuklearstroms zum Spottpreis von 42 €/MWh an Großhändler ohne eigene Produktionskapazitäten abgeben. Deren Leistung erschöpft sich darin, ihren Kunden Rechnungen zu schreiben. Sie existieren nur, weil die EU-Politik den Anschein erwecken will, hier werde Marktwirtschaft praktiziert. In Wirklichkeit handelt es sich um staatlich anerkannte Parasiten. Damit soll nun Schluss gemacht werden. Ab 2026 soll der Staat EDF nun einen mittleren Preis von mindestens 70 €/MWh garantieren. Das soll ausreichen, um privaten Stromkunden Preisstabilität und industriellen Kunden Wettbewerbsfähigkeit zu sichern sowie den Bau neuer Reaktoren zu finanzieren. Ob das auch reicht, um die Entschuldung des hoch verschuldeten Staatskonzerns voranzubringen, seht dahin.
Mit der Bekanntgabe eines garantierten mittleren Preisniveaus für Nuklearstrom hat sich die Regierung Macron/Borne offenbar dafür entschieden, sich von den bislang von der EU-Kommission favorisierten ohnehin nur scheinbar marktwirtschaftlichen Strompreisfindungs-Formeln zu verabschieden und stattdessen auf staatlich regulierte Preise zu setzen. Das haben verschiedene Experten angeregt, die die Anerkennung natürlicher Monopole in der Energie- und Wasserversorgung fordern, um die Transaktionskosten zu minimieren. Darauf weist inzwischen sogar das liberale Wirtschaftsmagazin „Contrepoints“ hin. Um wirklich von Marktwirtschaft reden zu können, müssten die Stromkunden tatsächlich die freie Wahl zwischen konkurrierenden Anbietern mit jeweils eigenen Produktions- und Distributions-Kapazitäten haben. Das bedeutete mindestens eine Verdoppelung, wenn nicht Verdreifachung der notwendigen Infrastrukturen und eine entsprechende Kostensteigerung für die Verbraucher. Es gibt deshalb in der Elektrizitäts- und Wasserwirtschaft keinen wirklichen Wettbewerb, sondern allenfalls Wettbewerbs-Simulation. Auch der Liberalismus kann also zu einer realitätsfernen Ideologie werden, die nur Kosten verursacht und niemandem außer einer winzigen Minderheit von Staatsprofiteuren zu einem besseren Leben verhilft. Viele Europäer sind heute vor allem deshalb nicht gut auf den Liberalismus zu sprechen, weil die Liberalisierung der Elektrizitätswirtschaft in der EU ihnen nur kräftige Preissteigerungen, aber keine Vorteile gebracht hat.
Für die Franzosen kommt hinzu, dass sie EDF und die Nuklearwirtschaft wegen deren Wurzeln in der Résistance gegen den Nazismus mit einigem Recht als Volkseigentum betrachten können. Der Aufbau der französischen Nuklearwirtschaft in der Nachkriegszeit wurde mithilfe des internationalen Kapitalmarktes vollständig von den französischen Stromkunden finanziert. Der durch Indochina-, Suez- und Algerienkrieg geschwächte französische Staat wäre dazu gar nicht in der Lage gewesen. Die Franzosen konnten sich glücklich schätzen, mit General de Gaulle einen weitsichtigen Staatsmann ans Ruder gebracht zu haben, der früh die Bedeutung der Verfügbarkeit preiswerter Energie im Überfluss für den wirtschaftlichen Wohlstand erkannte. Allerdings brauchte der Aufbau der Kernenergie längere Zeit. Viel schneller ging die Erschließung der Wasserkraft in den Alpen und den Pyrenäen vonstatten. Stauseen und Kanäle ermöglichten gleichzeitig die Entwicklung einer hochproduktiven Landwirtschaft im Süden Frankreichs, der zuvor eher steppen-, wenn nicht wüstenähnlich aussah. Dass die Provence heute überwiegend grün ist, verdanken wir EDF und dem Canal de Provence.
Leider setzte de Gaulle bei der Entwicklung der Kernenergie zunächst (wohl aus militärischen Gründen) einseitig auf den Bau (mittel-)großer Natururan-Reaktoren, obwohl der erste von den Pazifisten Frédéric und Irène Joliot-Curie entwickelte funktionsfähige französische Kernreaktor „Zoé“ sehr klein war und durchaus zu zusammenschaltbaren Modulen (im Sinne der heutigen SMR-Konzepte) hätte weiterentwickelt werden können. Stattdessen hat sich die französische Nuklearwirtschaft in der kurzen Zeit, in der die französische Areva mit der deutschen Siemens zusammenging, auf die Entwicklung des Großreaktors EPR festgelegt. Obwohl Reaktoren dieses Typs inzwischen in der VR China und in Finnland in Betrieb sind, erweist sich dieses Konzept inzwischen als Kostenfalle. Erst im kommenden Jahr wird mit der Inbetriebnahme des ersten französischen EPR in der Normandie gerechnet. Dadurch bekam das Konzept in Großserie gebauter modularer Kleinreaktoren (SMR) auch in Frankreich Auftrieb.
Vor kurzem stellte die französische Start-up Naarea im Wissenschaftsmagazin „Sciences et Avenir“ die Konzeptstudie eines inhärent sicheren Molten-Salt-Kleinreaktors vor, der mithilfe schneller Neutronen aus nuklearen Abfällen Energie gewinnen soll. Das Konzept dieses Reaktors mit einer Leistung von 40 Megawatt ist nicht vollkommen neu. Es erinnert in manchem an den Dual-Fluid-Reaktor des privaten Berliner Instituts für Festkörper-Kernphysik.
Allerdings rechnet das französische Entwickler-Team unter Jean-Luc Alexandre mit einer niedrigeren Betriebstemperatur von nur 700 Grad Celsius und die verwendete Kochsalzlösung soll nicht in Rohren aus rostfreiem Metall, sondern in Keramikrohren aus Siliziumkarbid zirkulieren. Auch Graphen soll im Reaktorkern eingesetzt werden. Die französischen Forscher haben allerdings den Vorteil, nicht wie Dual Fluid Energy Inc. nach Kanada ausweichen zu müssen, um ihr Konzept bis zu einem funktionierenden Prototypen vorantreiben zu können. Der Prototyp des Naarea-Reaktors soll zwischen 2027 und 2028 fertig sein. Ab 2030 soll dann die Serienproduktion von Hunderten von Kleinreaktoren mithilfe von 3D-Druckern beginnen. Die im Jahre 2020 gegründete Firma Naarea beschäftigt zurzeit 170 Personen und soll noch vor dem Ende dieses Jahres eine Beschäftigtenzahl von 200 Personen erreichen. Schon im nächsten Jahr soll die Belegschaft auf 350 Personen aufgestockt werden. Finanziert wurde die Start-up bislang überwiegend über Spenden-Aufrufe (Crowdfunding). In diesem Frühsommer gewann Naarea den von der französischen Regierung im Rahmen des Investitionsplans 2030 ausgeschriebenen Wettbewerb „Réacteurs Nucléaires innovants“ und erhielt dadurch vom Staat eine Starthilfe von 10 Millionen Euro. Zurzeit versucht Naarea mithilfe einer Werbekampagne 150 Millionen Euro einzutreiben. Deren Chancen gelten aber wegen des Rückschlags beim konkurrierenden Projekt Nu Scale Power zurzeit als nicht besonders gut.
Wie dem auch sei: Auch Frankreich beteiligt sich nun aktiv an der Suche nach dem tragfähigsten Mikroreaktor-Konzept und hat dabei wegen seiner Willkommenskultur in Sachen Kernenergie sicher bessere Karten als Deutschland. Der jetzt von der französischen Regierung versprochene Garantiepreis von 70 €/MWh dürfte allerdings nicht ausreichen, um die Suche nach neuen Reaktor-Konzepten attraktiv zu machen. Als attraktiv für zukünftige Nutzer erscheint jedoch die Möglichkeit, die Kleinreaktoren – unabhängig von weiträumigen Verteiler-Netzen – in unmittelbarer Nähe zu den Orten des Verbrauchs aufzustellen. Der Kern des 40 MW-Reaktors von Naarea soll nicht größer sein als ein Kühlschrank, die Gesamtanlage soll die Größe eines Autobusses nicht überschreiten. So erscheint die Annahme durchaus realistisch, dass der massenhafte Einsatz von Kleinreaktoren eines Tages zur Versöhnung zwischen Kernenergie und Marktwirtschaft führen könnte.
(Zuerst erschienen am 1. Dezember 2023 beim Europäischen Institut für Klima und Energie EIKE)