Von Edgar Ludwig Gärtner
Die Bibel, das „Buch der Bücher“ d.h. viele Bücher in einem), ist wohl immer noch eines der meistgelesenen Bücher der Welt. Auch in diesem Zusammenhang unverdächtige Schriftsteller wie der Kommunist Bertolt Brecht entschieden sich für die Bibel, wenn sie hätten entscheiden müssen, welches Buch sie auf eine einsame Insel mitnähmen, wenn ihnen nur eines erlaubt wäre. Denn in keinem Buch erfährt man mehr über menschliche, allzu menschliche Stärken und Schwächen bzw. Launen als in diesem. Die Bibel zeigt im Grunde, dass es so etwas wie eine im Kern unwandelbare Menschliche Natur gibt. Die Veränderungen bzw. Entwicklungen der letzten Jahrtausende beschränkten sich also eher auf Äußeres. Ohne die Durchsetzung heiliger, dem menschlichen Machstreben und Streit entzogener Gebote und Pflichten schien das längerfristige menschliche Zusammenleben undenkbar. Solche Gebote enthält das Buch, das heute auf der ganzen Welt als Bibel bekannt ist.
Dabei ist die Gleichsetzung von Bibel und Buch eher neueren Datums, denn Bibel kommt vom griechischen „biblia“. Das ist die Pluralform von „biblion“. Auch ein Blinder sieht, dass die wechselnde Zusammenstellung heiliger Texte, die man seit dem 9. Jahrhundert als „Bibel“ bezeichnet, nicht aus einer Hand stammen können. Es handelt sich um sehr unterschiedliche Geschichten, die von Juden und Christen in einem Zeitraum von etwa 1.000 Jahren erzählt und wohl zunächst mündlich verbreitet wurden. Außerdem wurden diese größtenteils voneinander unabhängigen Texte in vorchristlicher Zeit nicht in Büchern bzw. Kodizes, sondern in Rollen veröffentlicht. Dennoch bezeichnet bereits der Klappentext des im Jahre 2019 gebunden und später als preiswertere Taschenbuchausgabe veröffentlichten Buches „Die Entstehung der Bibel“ der beiden bekannten Religionshistoriker Konrad Schmid (Zürich) und Jens Schröter (Berlin) die Bibel als „Wunderwerk“. Denn alles passt darin trotz unterschiedlicher Herkunft gut zusammen, atmet den gleichen Geist und hat sich über die zwei bis drei Jahrtausende seit ihrer Abfassung kaum verändert. Gläubige sehen hier die Macht des Heiligen Geistes im Spiel.
Die Bedeutung der Bibel hängt bei weitem nicht nur an ihrem Unterhaltungswert, der keinesfalls als gering veranschlagt werden soll, sondern an der Tatsache, dass die Geschichte des Judentums und des Christentums als Geschichte der Auslegung der Bibel dargestellt werden kann. Ohne die Bibel wären Europa und der ganze Westen nicht geworden, was sie sind, bis vor kurzem also die wirtschaftlich und kulturell erfolgreichsten Regionen der Welt. Dass unsere Stärke aus dem Geist der Bibel kommt, müssen sich die Europäer heute allerdings von einem Inder erklären lassen. Ich meine damit „Das Buch der Mitte“ von Vishal Magalwadi.
Ich komme aus einem damals beinahe zu 100 Prozent römisch-katholischen Dorf im Fuldaer Land und war in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre Zögling eines bischöflichen Internats in unserer ebenfalls katholisch geprägten kreisfreien Stadt. Wir kannten von den biblischen Büchern im Wesentlichen nur das Neue Testament, das heißt die vier Evangelien, die aus unterschiedlichen Perspektiven Leben und Wirken des Gottmenschen Jesus Christus schildern, sowie die Apostelgeschichte und die Paulus-Briefe. Zur Offenbarung Jesu Christi durch Johannes (Apokalypse), die auch zum Neuen Testament gehört, hatten wir ein eher skeptisches Verhältnis. Die Bücher des Alten Testaments mit Ausnahme der Genesis (1. Buch Mose) und Exodus (2.Buch Mose), blieben uns weitgehend unbekannt.
Natürlich wussten wir um die Bedeutung der 10 Gebote (Dekalog), konnten diese aber nur vage einordnen. Die meisten Altersgenossen nahmen damals die Geschichte mit den Steintafeln, die Mose auf dem Berg Sinai aus göttlicher Hand überreicht wurden, wohl wörtlich. Ein bekannter Hollywood-Film unterstützte diese Sicht. Dabei hatten die Bibelforscher große Mühe mit der Klärung der Frage, ob Mose überhaupt eine historische Figur war. Die beiden Autoren des vorliegenden Buches vermuten, dass er es war. Mehr sagen sie aber nicht. Wie die 10 Gebote auf die Erde kamen, bleibt offen. Die gerade in Deutschland sehr intensive historisch-kritische Bibelforschung lieferte keine Gewissheiten, sondern konnte nur aufkommende Zweifel verstärken. Deshalb riet man uns, sich davon fernzuhalten.
Zumindest steht die Historizität des Königs David außer Frage, da über ihn eine in Stein gemeißelte Inschrift erhalten ist. Aber die den Königen David und Salomo zugeschriebene literarisch hoch stehende Schriftkultur ist erst Jahrhunderte später bezeugt, d.h. sie wurden von der Überlieferung rückdatiert. In den beiden Teilreichen Israel und Juda lebten in der Königszeit schätzungsweise nur 55.000 Menschen. Diese waren nicht fähig, die in der Literatur geschilderten Eroberungskriege zu führen. Im Vergleich zu den älteren Reichen im Nahen Osten mit einer Schriftkultur nahmen sich die beiden jüdischen Reiche wirklich mickrig aus. Kein Wunder, dass Jerusalem und der Tempel im Jahre 587 v.Chr. von den Babyloniern zerstört und ihre Eliten für Jahrzehnte ins Exil geschickt wurden.
Das babylonische Exil (597 – 539 v. Chr.) gilt allerdings weniger als Unglück, denn als die Zeit der Geburt der hebräischen Bibel und des Beginns der Umwandlung der ursprünglichen jüdischen Kultreligion in eine Schriftreligion, die aber erst nach der Zerstörung des zweiten Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n.Chr. voll zum Tragen kam. Die hebräische Alphabetschrift entwickelte sich aus der Schrift der nördlichen phönizischen Nachbarn. Eindeutig profitierten die israelitischen Eliten während des Exils vom intensiven Kontakt mit der viel weiter entwickelten babylonischen Gelehrsamkeit. Das sehe man an den Büchern von Jesaia und Ezechiel, sagen die beiden Bibelhistoriker. Im Unterschied zu ihren Nachbarn verlegten die Israeliten Gottes Wohnstatt in den Himmel und entzogen sie damit den politischen und militärischen Auseinandersetzungen. Das ist vielleicht einer der wichtigsten Gründe für die Langlebigkeit des Judaismus im Vergleich zu den längst verschwundenen polytheistischen Religionen des Vorderen Orient. (Bis in die Königszeit gab es auch bei den Juden noch polytheistische Tendenzen.)
Unter dem persischen Großkönig Kyros durften die Juden wieder aus dem Exil zurückkehren und ihre Religion frei ausüben. Aber es herrschten in dem kleinen Land Not und Ungerechtigkeit. Deshalb kreisten die theologischen Schriften des Jesaia-Buches um die Frage, wieweit die Einzelnen selbst verantwortlich seien für die Verzögerung des versprochenen Heils. So kam es zur Individualisierung der jüdischen Religion, die auch im Christentum fortwirkt. Erst mit den als Deuteronomium bekannten Texten der hebräischen Bibel kam in Gestalt der 10 Gebote die Vorstellung auf, dass nicht der König, sondern Gott selbst die Legislative ist. Sobald das Gesetz als göttlich galt, konnte es nicht mehr unbesehen verändert werden. Galten vorher nur die Könige als Vollmenschen, so wurde nun die Gottunmittelbarkeit aller menschlichen Individuen anerkannt. Dieses demokratische und freiheitliche Menschenbild gilt im Westen im Prinzip bis heute. Das Vertrauen auf die „Innensteuerung“ der Individuen bedurfte allerdings der Durchsetzung universeller Gebote. Der strenge Dekalog und die individuelle Verantwortung waren also von Anfang an komplementär.
Mehr Einzelheiten über die Entstehung der hebräischen Bibel bzw. die Geschichten des Alten Testaments überlasse ich den Lesern. Hinweisen möchte ich nur auf die Bedeutung der 1947 in Höhlen am Toten Meer (Qumran) gefundenen Textrollen. Insbesondere die gut konservierte Rolle mit Jesaia-Texten aus dem Jahre 125 v.Chr. zeigt, dass dieser Text bis ins hohe Mittelalter extrem getreu reproduziert wurde. Ein Missverständnis entstand lediglich, weil die Änderung eines einzigen Buchstabens des hebräischen Alphabets den Sinn eines ganzen Absatzes verändern konnte. Hinweisen möchte ich auch auf die Behandlung jüdischer Schriften bzw. deren griechischer Übersetzungen in der frühen Christenheit.
Die Teile der Darstellung von Schmid und Schröter, die sich mit der Entstehung und der Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments, d.h. der christlichen Bibel beschäftigen, habe ich nur überflogen – und zwar beileibe nicht aus Desinteresse, sondern weil ich mich dort als praktizierender Katholik und langjähriger Teilnehmer eines ökumenischen Hauskreises (wir treffen uns alle zwei Wochen physisch und/oder über Zoom zu theologischen Diskussionen auf hohem Niveau) zu Hause fühle und dabei im Prinzip nichts Neues lerne. Ich habe nur überprüft, wieweit Schmid und Schröter in meinen Augen wichtige Entwicklungen wie z.B. den Kampf des Bischofs Irenäus von Lyon im 2. Jh. n. Chr. gegen den Gnostizismus Markions und andere Häresien berücksichtigt haben und dabei festgestellt, dass sie sogar die Jesus-Trilogie des verstorbenen deutschen Papstes Joseph Ratzinger (Benedikt XVI.) kurz würdigen. Also von meiner Warte aus nichts zu beanstanden.
Selbstverständlich nehmen Schmid und Schröter nicht zu Glaubensfragen Stellung. Das sollte man von Historikern auch nicht erwarten. Wichtig fand ich, dass sie – ausgehend von überprüfbaren Fakten und Zeugnissen – die in der Spätantike und im Mittelalter verbreitete Idee eines Bruches zwischen Judentum und Christentum weit von sich weisen. Das in den vier Evangelien geschilderte Wirken des Gottmenschen Jesus Christus vollzog sich innerhalb des pluriformen Judentums. Das ist m.E. gerade angesichts der neuerlichen Infragestellung des Existenzrechts Israels höchst aktuell.
Ob man das Christentum als „Buchreligion“ bezeichnen darf, ist nach Joseph Ratzinger fraglich, denn im Mittelpunkt des Neuen Testaments stehen nicht Texte, sondern die Person Jesus Christus und ihr Wirken. Die vier Evangelien sind keine Anekdotensammlungen, sondern Porträts Jesu aus verschiedenen Blickwinkeln. Das Matthäus-Evangelium sieht Jesus als König, das Markus-Evangelium hingegen als Gottesknecht. Beide Figuren finden sich im Alten Testament. Der Evangelist Lukas, der dem Apostel Paulus nahestand und vermutlich selbst als Arzt tätig war, sieht in Jesus vielmehr den Seelen-Doktor. Im philosophisch anspruchsvollen Johannes-Evangelium erscheint Jesus schließlich als der Fleisch gewordene göttliche Logos. Alle vier Porträts sind nach christlicher Auffassung gleichermaßen wahr.
Die Lektüre des Buches von Konrad Schmid und Jens Schröter ist nach meinen Erfahrungen durchaus angenehm und streckenweise sogar richtig spannend, weil beide Autoren auf einen akademischen Stil verzichten. Es ist, wie gesagt, kein frommes Buch. Seine Lektüre kann uns aber m.E. im Kampf gegen die Anbetung des Nichts und die Verflachung unseres Daseins helfen.
(Zuerst veröffentlicht am 27. Oktober 2024 auf der „Achse des Guten“)