Wer sich im heutigen Deutschland noch am Humboldt’schen Bildungsideal orientiert, gilt als verschroben und altmodisch. Vorbei die Zeiten, als das humanistisch inspirierte Ideal der Erziehung junger Menschen zu mündigen, das heißt mit eigener Urteilskraft und Verantwortung ausgestatteter Persönlichkeiten in der halben Welt Nachahmer fand. Bislang lebte dieser Anspruch, wenn auch zusehends verblassend, wenigstens noch ein wenig im Abitur, dem Zertifikat der Hochschulreife am Ende der Gymnasialzeit, weiter. Doch gerade dem Abitur gehen schwarz-rot-grüne Gleichheitsfanatiker in Regierungsämtern nun massiv an den Kragen.
Längst ist das Abitur keine zwingende Voraussetzung mehr für den Hochschulzugang. Schon im Jahre 2014 studierten an deutschen Universitäten fast 50.000 Frauen und Männer ohne Hochschulreife. Im Vergleich zu den damals an deutschen Unis und Fachhochschulen eingeschriebenen 2,7 Millionen Studenten ist das zwar wenig beeindruckend. Doch der Anteil der Studenten ohne Abi steigt rasch, zumal er durch die Möglichkeit, damit existierende Quotensysteme für den Studienzugang zu umgehen, von einigen Bundesländern aktiv gefördert wird. Im Stadtstaat Hamburg und im bevölkerungsreichsten Flächenland NRW beträgt er schon über fünf Prozent.
Aber nicht nur dadurch wird das Abitur zusehends entwertet, sondern vor allem durch seine Inflation, das heißt durch die künstliche Aufblähung der Abiturientenzahlen entsprechend ideologischer Vorgaben. 70 bis 80 Prozent der Schüler jedes Jahrgangs sollen das Schulsystem mit dem Abiturzeugnis verlassen. Das ist nur erreichbar, wenn die Anforderungen stetig gesenkt werden. Da die Lehrer einen schlechten Notendurchschnitt ihrer Klasse aufwändig begründen müssen, sorgen sie ganz von selbst dafür, dass dieser sich sehen lassen kann, indem sie großzügig über Fehler in Klassenarbeiten und mündlichen Prüfungen hinwegsehen.
Das gleiche Resultat erreichen sie auch durch Aufgaben und Fragen, die nach dem Multiple-Choice-Verfahren beantwortet werden können. Statt durch mehr oder weniger mühsames Rechnen lassen sich Mathematik-Aufgaben danach ohne weiteres auch durch schlaues Kombinieren bzw. Raten nach dem Ausschluss-Prinzip „lösen“. (Auf diese Weise lernen auch Hunde und Schimpansen.) Ähnlich funktionieren die im Deutsch- oder Fremdsprachenunterricht neuerdings beliebten Lückensatzdiktate. Vokabeln oder Grammatikregeln pauken gilt als langweilig. Die Schüler gewöhnen sich so daran, im Leben immer nach einer Auswahl vorgegebener Problemlösungsmöglichkeiten zu suchen, statt ihren eigenen Kopf anzustrengen. Kein Wunder, dass viele Lehrlinge und Studienanfänger unfähig sind, einen Dreisatz zu lösen oder den Beipackzettel einer Schachtel Aspirin zu verstehen. Statt in die Mündigkeit durch die allseitige Bildung der Persönlichkeit führt diese Art von Erziehung, die man eher als Dressur bezeichnen sollte, mit hoher Wahrscheinlichkeit geradewegs in die Unmündigkeit.
Von „Bildung“ ist in den Richtlinien der deutschen Bundesländer seit zehn, zwölf Jahren ohnehin kaum noch die Rede. Dafür umso mehr vom Erwerb wechselnder „Kompetenzen“, wie sie der Arbeitsmarkt gerade fordert. Systematische Lehrpläne für die Vermittlung von Grundlagenwissen und Kulturtechniken, auf denen spätere berufliche Spezialisierungen aufbauen können, gibt es nicht mehr. Die Vermittlung von zusammenhängendem Wissen kommt überhaupt zu kurz, zumal „Frontalunterricht“ verpönt ist. Das Lernen alter Sprachen wie vor allem Griechisch und Latein (für Wilhelm von Humboldt die wichtigste Grundlage der abendländischen Kultur) gilt da als reine Zeitverschwendung beziehungsweise als „elitär“. Auf dem Weg zu der von der etablierten politischen Klasse gewünschten „inklusiven“ Einheitsschule für alle gemäß der sozialistischen Gleichheitsideologie ist das Mittelmaß Trumpf.
Wie gerade alte Sprachen die Emanzipation fördern können, habe ich selbst erfahren. Ich kam von einem Handwerksberuf als Seiteneinsteiger aufs Gymnasium und musste Latein nachholen. Das tat ich dann so gründlich, dass ich fortan immer eine „eins“ in Latein hatte. Mehr mathematisch-naturwissenschaftlich als schöngeistig orientiert, faszinierte mich die logische Klarheit dieser „toten“ Sprache. Freilich war damals das große Latinum noch unumgängliche Voraussetzung für die Aufnahme eines Biologie- oder Medizinstudiums. Französischunterricht habe ich dagegen nie gehabt. Ich erlernte das Französische, das ich heute wie eine zweite Muttersprache beherrsche, auf der Grundlage solider Lateinkenntnisse so ganz nebenbei und finde auch einen leichten Zugang zu anderen romanischen Sprachen. Ich wage mir kaum vorzustellen, wie mein geistiger Horizont aussähe, wenn ich heute das Abitur nachholen würde.
Die enge Spezialisierung auf beruflich „Brauchbares“ setzt sich leider fort auf den Universitäten und Fachhochschulen, wo es heute kaum mehr möglich ist, sich einen halbwegs runden Überblick über klassische naturwissenschaftliche Disziplinen wie Physik, Chemie und Biologie oder geisteswissenschaftliche Disziplinen wie Philosophie oder Germanistik zu verschaffen. Die Studenten müssen sich sofort in anwendungsorientierte Bindestrich-Fächer einschreiben. Das erinnert mich an eine Nichte, die das gleiche Fach wie ihr Onkel studieren wollte, das heißt Biologie. Das war aber nicht möglich. Sie schrieb sich deshalb ins Fach „Ökosystem-Management“ ein. Man braucht sich dann nicht zu wundern, dass Angela Merkels Energiewende-Abenteuer mit einer „Klima-Wissenschaft“ aus dem Computer begründet wird, die auf einem „Treibhauseffekt“ fußt, der in seriösen Physik-Lehrbüchern nicht vorkommt. Den Professoren und Studenten, die heute unsere Unis bevölkern, fällt das allerdings gar nicht mehr auf. Edgar L. Gärtner