Boualem Sansal: 2084. Das Ende der Welt

Boualem Sansal - 2084. DAS ENDE DER WELT

Boualem Sansal: 2084. Das Ende der Welt. Roman. Deutsch v. Vincent von Wroblewsky. Merlin-Verlag, Gifkendorf 2016. Geb. 288 S. € 24,-
Nicht nur im alten Europa spitzt sich der Widerspruch zwischen der globalistischen und zentralistischen Strategie der Finanzelite und der wachsenden Divergenz nach nationaler Souveränität strebender Volksbewegungen zu. Verschiedene Reaktionen auf den Erfolg der Brexit-Kampagne zeigen, dass nicht wenige Eurokraten mit diktatorischen „Lösungen“ der Euro-Krise liebäugeln. Doch allein mit Gewalt lasse sich keine Diktatur errichten und aufrechterhalten, erklärte der mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnete algerische Wirtschaftsingenieur und Schriftsteller Boualem Sansal vor einigen Monaten in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung. Jedes Zwangsregime bedürfe einer religiösen oder quasireligiösen Legitimation. Das verbrauchte Christentum tauge dazu nicht, wohl aber der radikale Islam. Denn für Muslime sei die Anwendung von Erpressung und körperlicher Gewalt zur Durchsetzung des vermeintlichen Gesetzes Gottes kein Problem.
Es ist gut, das zu wissen, bevor man mit der Lektüre des neuesten Romans des frankophonen Algeriers beginnt, weil man über Sansals Motive im Roman selbst wenig erfährt. Ich habe die deutsche Ausgabe nur überflogen, weil ich das französische Original schon im letzten Jahr verschlungen habe. Dort zeigt sich der ehemalige hohe Beamte im algerischen Industrieministerium als Sprachschöpfer, was seine Lektüre zum Hochgenuss machen könnte, wäre sein Gegenstand nicht so ernst. Im Roman „2084“, der sich bis in Details an George Orwells Dystopie „1984“ anlehnt, aber auch ein paar Anleihen bei Albert Camus und bei Thomas Manns „Zauberberg“ nimmt, schildert Sansal, wie die Welt nach einem Atomkrieg unter einer islamischen Diktatur aussehen würde. Der nach seinem (virtuellen) Alleinherrscher benannte grenzenlose Staat Abistan ist bar jeglicher Erinnerung an die Kulturleistungen der Vergangenheit. Die Angst regiert. Vorgeschrieben ist eine kurzsilbige primitive Einheitssprache (Abilang). Die Wächter über die Einhaltung der religiösen Vorschriften sind überall zugegen. Es herrscht eine strenge Gedankenkontrolle. Individuelles Denken und Problemlösen ist verpönt. Hungersnöte und Krankheiten haben die Bevölkerung dezimiert. Die neu geschaffene Gilde der Leichensammler braucht sich über mangelnden Nachschub nicht zu beklagen. Pilgerreisen und öffentliche Massenhinrichtungen von Abweichlern und „Verrätern“ in großen Stadien haben den Fußball als Freizeitvergnügen abgelöst.
Wir lernen die Hauptperson, einen relativ jungen Mann namens Ati, in einem Turberkulose-Sanatorium im Gebirge kennen. Schon vor seiner Entlassung beginnt sich Ati zu fragen, ob es nicht eine Welt der Freiheit jenseits von Abistan geben könnte. Auf dem mühsamen Rückweg in die Hauptstadt Qodsabad trifft er den gleichaltrigen Nas, der mit Ausgrabungen beschäftigt ist. So beginnt er zu ahnen, dass es eine Welt vor Abistan gegeben haben muss. Bei seinem Versuch, wieder im beruflichen und religiösen Alltag Fuß zu fassen, macht Ati Bekanntschaft mit der Sprach-Polizei und dem Überwachungs- und Denunziationssystem der Machtelite und erfährt schließlich von der Existenz eines Ghettos von Abtrünnigen. Ati gelangt auf gefährlichen Umwegen schließlich dorthin. Das Ghetto erweist sich als abgelegene Insel der Freiheit und der Erinnerung an bessere Zeiten.
In Orwells „1984“ durchbrach wenigstens eine dramatische Liebesgeschichte den tristen Alltag unter der Tyrannei. In Sansals „2084“ hingegen werden zwar Kinder gezeugt. Aber von Liebe ist überhaupt nicht mehr die Rede. Aus diesem Grunde kann es in „2084“ auch kein Happy End geben. Selbst in der Freiheitsinsel, bei der nicht klar wird, ob sie wirklich frei ist oder lediglich dem Vergnügen eines der herrschenden Clans dient, herrscht deshalb Endzeitstimmung.
Edgar L. Gärtner

 

(zuerst veröffentlicht in: eigentümlich frei Nr. 168)