Das Ende einer moralischen Wunschwelt

von Edgar L. Gärtner

Ich weiß nicht, ob Wladimir Putin ein Werkzeug der Vorsehung ist oder sich als solches empfindet. Jedenfalls hat er mit seinem nicht völlig überraschenden Angriff gegen das ehemalige russische Bruderland Ukraine gewisse in Wunschträumen gefangene Angehörige des westlichen polit-medialen Komplexes mit einem Schlag zurück in die harte Realität geschleudert. Im Moment, in dem ich diese Zeilen schreibe, ist es völlig offen, wem die vom Westen unter Führung der US-Regierung unter Joe Biden als Antwort gegen die Invasion der Ukraine verhängten wirtschaftlichen Sanktionen am meisten schaden werden. Klar ist hingegen, dass die auf Illusionen beruhende westliche Kultur des Hedonismus bald ein jähes Ende finden wird. Schon ist vom Anbruch eines neuen Zeitalters die Rede. Doch dahinter verbergen sich gleich neue Illusionen. Wie ist es überhaupt zum Realitätsverlust westlicher Eliten gekommen? Sicher gibt es dafür nicht die eine, sondern verschiedene Ursachen. Eine davon – und sicher nicht die unwichtigste – ist die Verdrängung der vorbehaltslosen Wahrheitssuche durch den subjektivistischen Konstruktivismus.
Man muss nicht Immanuel Kant oder Karl R. Popper gelesen haben, um verstehen zu können, dass Konstruktivismus in jedem menschlichen Erkenntnisprozess eine Rolle spielt. Wir sehen die Natur nicht einfach wie sie ist. Vielmehr arbeiten Auge und Hirn beim Sehvorgang eng zusammen. Wer nicht weiß, was er sehen will, dem fällt zunächst wenig bis gar nichts auf. Man findet nur, was man sucht (was Zufallsfunde nicht ausschließt). Unsere Beobachtung ist von Emotionen und Theorien geleitet. Die Konstruktion der Bilder, an denen wir uns orientieren, sind Ergebnis von Denkprozessen, die genaugenommen sogar außerhalb des Körpers stattfinden. Weiterlesen