Nur der Totalitarismus braucht kein Feindbild
Edgar L. Gärtner
Die Politik ist unser Schicksal. Oft kümmert sie sich um Probleme, die es ohne sie gar nicht gäbe. Das ist wahr. Dennoch wäre die Welt ohne Politik mit Sicherheit kein besserer Ort. Denn in einer solchen Welt gäbe es keine Trennung zwischen privaten und öffentlichen Angelegenheiten. Wir verdanken diese durchaus heilsame Trennung dem römischen Recht. Dieses machte Schluss mit der Logik des Tribalismus, die bis dahin das Zusammenleben aller Menschen regelte. Ausnahmen bildeten da nur die griechischen Stadtstaaten. In seiner „Theorie des Politischen“ (1932, 1963) hat der umstrittene Staatsrechtler Carl Schmitt hergeleitet, dass jedes staatliche Gebilde eines Feindbildes bedarf. Fehlt ein solches, bleiben nur öffentliche Verwaltungsaufgaben wie der Straßenbau, die Wasserversorgung oder die Abfallentsorgung, die man auch privatwirtschaftlich auf der kommunalen oder kantonalen Ebene lösen kann. Aufgaben wie die Pflege von Geburts- und Sterberegistern sowie Bildung und Erziehung wurden im alten Europa ohnehin nicht von der weltlichen, sondern von der kirchlichen Verwaltung übernommen. Geht es aber nur noch um Verwaltung, dann gibt es keinen Grund mehr, zwischen privaten und öffentlichen Aufgaben zu unterscheiden.
Nur wer davon überzeugt ist, in der Welt keine wirklichen Feinde zu haben, wird die nationalstaatlichen Grenzen soweit für Migranten öffnen wie Angela Merkel. Nicht wenige halten heute sogar die Definition und Pflege von Feindbildern für ein Wesensmerkmal faschistischer Ideologien. Das genaue Gegenteil ist freilich richtig. Die vernünftige, nachvollziehbare Feindbildbestimmung ist eines der Elemente, die ein auf die individuelle Freiheit und Verantwortung gegründetes Gemeinwesen von einem totalitären Herrschaftssystem unterscheiden. Nicht von ungefähr beginnt der algerische Schriftsteller Boualem Sansal, Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, seine originelle Fortschreibung von George Orwells Dystopie „1984“, unter dem Titel „2084. Das Ende der Welt“ damit, dass der Machthaber Abi den Begriff „Feind“ aus dem Lexikon streichen lässt, sobald der äußere durch den inneren Feind des Regimes abgelöst worden war.
Carl Schmitt vertrat bekanntlich die Meinung, ein Volk höre auf, politisch zu existieren, sobald es die Fähigkeit verliert, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Jesu Worte in der Bergpredigt „Liebet Eure Feinde!“ bezögen sich nicht auf den öffentlichen, den politischen Feind (lat. hostis), sondern nur auf den persönlichen Feind (lat. inimicus), schrieb Schmitt. Der Heidelberger Theologe Klaus Berger streitet übrigens ab, dass die Bergpredigt überhaupt im Sinne einer idealistischen Tugendethik verstanden werden kann. Jesus lehre dort vielmehr, wie die Gläubigen trotz fortwährender Misshandlung der Nähe Gottes gewiss bleiben können. Wie dem auch sei. Schmitt betonte jedenfalls, man dürfe dem Feind die Eigenschaft, Mensch zu sein, in keinem Fall absprechen, das heißt nicht auf seine physische Vernichtung hinarbeiten. Man brauche also den öffentlichen Feind nicht hassen, sondern müsse nur klarstellen, dass er Ziele anstrebt, denen sich das eigene Gemeinwesen nur um den Preis der Selbstaufgabe unterordnen könnte. Deshalb müsse der öffentliche Feind so definiert werden, dass er unter anderen Umständen auch zum Verbündeten taugt.
Das Politische könne nur im Plural existieren, unterstrich Schmitt, wobei er sich lediglich einer Einsicht anschloss, die vor der Verbreitung der Weltstaats-Idee durch amerikanische Philanthropen im christlichen geprägten Abendland Gemeingut war. Denn solange es überhaupt noch Gründe für eine politische Organisation der Gesellschaft oberhalb des kommunalen oder kantonalen Niveaus gibt, kann es wegen der nationalen Eigenheiten keinen die ganze Erde und die ganze Menschheit umfassenden Weltstaat geben. Den französischen Frühsozialisten Pierre Joseph Proudhon zitierend, schloss Schmitt daraus: „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“
Totalitäre Bewegungen zielen demgegenüber darauf ab, Politik durch die Verwaltung der „einen Welt“ zu ersetzen. Das ist auch das uneingestandene Ziel der EU. Totalitarismus ist der Tod des Politischen. Der amerikanische Historiker Timothy Snyder hat das in seinem im vergangenen Jahr erschienenen Buch „Black Earth“ am Beispiel von Hitlers „Barbarossa“-Feldzug aufgezeigt. Snyder demonstriert, dass Hitler kein Nationalist, sondern ein rassistischer Anarchist war. Der Massenmord an Millionen von Juden und Kriegsgefangenen im eroberten Osten geschah in Abwesenheit jeglicher Staatlichkeit. Carl Schmitt stand diesem Trend zunächst leider ambivalent gegenüber.
Hitlers Feldzug gen Osten zeigt aber klar: Totalitäre Bewegungen haben kein Feindbild. Carl Schmitt hat das im Zusammenhang mit seiner Kritik am Versuch der Legitimierung imperialistischer Expansion durch die Idee des Weltstaats aufgezeigt: „Der Gegner heißt nicht mehr Feind, aber dafür wird er als Friedensbrecher und Friedensstörer hors-la-loi und hors de l’humanité gesetzt“, schrieb Schmitt. Es wird nicht mehr zwischen Privatem und Öffentlichem unterschieden. Der Friedensstörer wird seiner Eigenschaft, Mensch zu sein entkleidet, dem Lynch-Mob ausgeliefert. Genau so verfährt heute das in Deutschland herrschende Parteien-Kartell mit jenen, die sich gegen das „Energiewende“-Abenteuer und die Kapitulation gegenüber der muslimischen Masseninvasion wenden. In Form der „medialen Hinrichtung“ von Kritikern wird der in allen Stammesgesellschaften wirksame archaische „Sündenbock-Mechanismus“ (René Girard) reaktiviert. Die Opferung von Sündenböcken sorgte dafür, dass in einer durch Zwietracht in ihrem Bestand gefährdeten Gemeinschaft wieder für eine gewisse Zeit Friede einkehrte.
Ähnlich sah das übrigens auch die weitaus weniger umstrittene jüdische Politik-Theoretikerin Hannah Arendt in ihrem grundlegenden Werk über die Ursprünge des Totalitarismus. Arendt zeigte, dass totalitäre Massenbewegungen immer statt von einem klaren Feindbild von einer vollkommen gegenüber der Realität abgedichteten Fiktion ausgehen. Die Juden waren nicht die Feinde der Nazis, sondern ihre Sündenböcke. Vielmehr bedurfte die nationalsozialistische Massenbewegung der Fiktion einer jüdischen Weltverschwörung. Wirklich gemeingefährlich werde die krankhafte Realitätsverleugnung, wenn sie vom moralischen Nihilismus des „Alles ist erlaubt“ zur Hybris des „Alles ist möglich“ fortschreitet, erkannte Hannah Arendt. Die Frage nach Erfolg oder Misserfolg sei dann nicht mehr beantwortbar. „Denn es liegt im Wesen der totalitären Fiktion, dass sie nicht nur das Unmögliche möglich macht, sondern vor allem auch alles, was sie nach ihrem ideologisch geleiteten Schema ‚voraussieht’ – und Voraussehen heißt hier lediglich Berechnen -, bereits als wirklich in Rechnung stellt. Da die Geschichte in der totalitären Fiktion voraussehbar und berechenbar verläuft, muss jeder ihrer Möglichkeiten auch eine Wirklichkeit entsprechen. Diese ‚Wirklichkeit’ wird dann nicht anders fabriziert als andere ‚Tatsachen’ in dieser rein fiktiven Welt.“ Da denkt man unwillkürlich an Angela Merkels Mantra „Wir schaffen das!“
Aber auch die Grünen glauben, sich auf Hannah Arendt berufen zu können, wenn sie im Begriff der Nation eine solche Fiktion sehen und ihr/unser Heil in deren Überwindung suchen. In Wirklichkeit ist die Nation, nach der klassischen Definition durch den französischen Philologen Ernest Renan (1882), alles andere als eine Fiktion. Leben heißt diskriminieren. Das gilt schon für die einfachste Zelle. Ließe sie undifferenziert Stoffe durch ihre semi-permeable Membran passieren, wäre sie schlicht tot. Renans Diktum „La nation, c’est un plébiscite de tous les jours“ (Die Nation ist eine tägliche Volksabstimmung) drückt aus, dass sich Menschen aufgrund ihrer gemeinsamen Herkunft und/oder gemeinsam erlebter historischer Ereignisse spontan zusammengehörig fühlen. (Eine gemeinsame Sprache, Religion oder Hautfarbe hielt der polyglotte Bretone, der lange im Nahen Osten tätig war, dagegen für nicht so wichtig.) Es geht bei der Nation also in erster Linie um Gefühle, um Liebe zu Volk und Vaterland. Im heutigen Frankreich wird das durch die Personifizierung der Nation (la France oder auch Marianne) unterstrichen. (Beiden Frauenbildern ist übrigens wenig Mütterliches eigen.) Erst in einem zweiten Schritt erfahren diese Gefühle eine rationale oder ideologische Begründung. (So funktioniert auch unser Hirn, in dem das für Gefühle zuständige limbische System gegenüber dem rational verschalteten Cortex immer die Oberhand hat.)
Der liberale französische Ökonom Pascal Salin sieht deshalb in der Nation eine „spontane Ordnung“ im Sinne Friedrich August von Hayeks, bedauerte allerdings, dass von Hayek selbst dazu kaum etwas ausführte, weil sein Fokus woanders lag. Salin betont auch, dass der Nation gegenüber dem Staat das Primat zukommt. Die Nation kann sich gegen ein gegebenes politisches System wenden, wenn sie ihre Identität bedroht sieht. Im modernen Nationalstaat wurde sie allerdings von der Staats- und Sozialbürokratie usurpiert. Wer Eigentümer eines Stückes Land ist, bleibt im modernen Wohlfahrtsstaat unklar. Infolgedessen gibt es hier auch keine vernünftige Lösung des Problems massenhafter Zuwanderung. (Salin plädiert für Eintrittsgebühren wie bei einem Club mit restriktiven Statuten.)
Brauchen die Anhänger der Freiheit heute ein neues Feindbild? Es sieht nicht danach aus. Zumindest die großen Kirchenväter und ihre Anhänger hatten seit Irenäus von Lyon und Augustinus von Hippo bis ins 20. Jahrhundert immer das gleiche Feindbild: den Gnostizismus oder Manichäismus in allen seinen Spielarten. Das hat sich erst seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil geändert. Der heilige Augustinus hat in seinem Meisterwerk „De civitate Dei“ alles hergeleitet, was man auch heute noch für eine rationale Feindbildbestimmung braucht. Da ist zunächst die Erbsünde-Lehre, das heißt die Einsicht, dass der Mensch nicht von Natur aus gut ist. Etliche Anthropologen gehen heute sogar davon aus, dass Homo sapiens sapiens von Natur aus Kannibale ist und bestätigen damit Augustinus. (Beim ausgestorbenen beziehungsweise ausgerotteten Homo neanderthalensis scheint es sich hingegen um den Menschen vor dem Sündenfall gehandelt zu haben.)
Bis heute nicht überall überwundene Formen des Kannibalismus sind auch rituelle Menschenopfer durch Steinigen, Enthaupten oder Verbrennen sowie nicht zuletzt die Sklaverei. Diese ist deshalb eine Form des Kannibalismus, weil der Sklave entmenscht wird. Im römischen Recht war er dem Vieh gleichgestellt. Sowohl die Tötung als auch die Versklavung von Menschen verurteilte Augustinus ausdrücklich und zeigte auf, dass sich die Menschen nur in der Nachfolge Christi, d. h. vor allem über die Eucharistie als rituelle Sublimierung des Kannibalismus vom Fluch Kains befreien können. Augustinus sieht die Ursache von Rückfällen in den nicht sublimierten Kannibalismus in der Selbstliebe und im Hochmut der Herrschenden sowie im gnostischen beziehungsweise manichäischen Denken. Die Kirche nahm diese Diagnose so ernst, dass sie mitunter militärische Kreuzzüge gegen gnostische Häretiker ausrief: so im Hochmittelalter gegen die Katarer und Albingenser, gegen die muslimischen Seldschuken oder gegen die Münsteraner Wiedertäufer. Nicht zufällig haben die Nazis in den Katarern Seelenverwandte und Vorläufer ihrer Bewegung gesehen und während der Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg begonnen, Ruinen von Katarer-Burgen in Südfrankreich zu restaurieren.
Das Wesen des gnostischen Denkens besteht in der Verdrängung der Unterscheidung zwischen „wahr“ und „falsch“ durch die starre und gedankenlose Gegenüberstellung von „gut“ und „böse“, „Helldeutschland“ und „Dunkeldeutschland“ beziehungsweise „halal“ und „haram“ oder auch „erneuerbar“ und „fossil“. Es kommt dem Gnostiker nicht darauf an, ob und inwieweit etwas wahr ist, sondern, dass es als gut gilt. Nach Eric Voegelin, der den Begriff „politische Religion“ geprägt hat, zeichnet sich der Gnostiker durch sechs Merkmale aus: Er ist erstens unzufrieden mit seiner Lage. Er hält zweitens die Welt für schlecht, den Menschen an sich aber für gut. Er glaubt drittens an die Möglichkeit innerweltlicher Erlösung und viertens an die Veränderbarkeit der natürlichen Seinsordnung im historischen Prozess des Fortschritts. Er muss deshalb die Vergangenheit schlechtmachen. Er glaubt fünftens an die Möglichkeit der Selbsterlösung durch eigene Anstrengung. Schließlich glaubt er sich im Besitz des dafür nötigen Erlösungswissens. Die beste deutsche Übersetzung für den bei uns wenig gebräuchlichen Begriff „Gnostiker“ ist übrigens „Gutmensch“. Insofern haben sich die freiheitsliebenden Menschen nicht geirrt, als sie darin spontan ihren Feind erkannten.
In der Tat finden wir bei den heutigen Gutmenschen alle Attribute der Gnosis beziehungsweise des Manichäismus. Ihre Heilsgewissheit äußert sich in einer eigenartigen Mischung vom Narzissmus, Selbsthass und Hochmut beziehungsweise Dämlichkeit und Skrupellosigkeit. Der Applaus für Angela Merkels Entscheidung, die zuverlässige, aber „böse“ Kernenergie im Hauruck-Verfahren durch die „guten“ Zufallsenergien Wind und Sonne zu ersetzen und Deutschland mit jungen männlichen muslimischen Migranten zu fluten, liefern dafür genügend Anschauungsmaterial. Überzeugt, auf der Seite des „Fortschritts“ zu stehen, übersehen die „helldeutschen“ Gutmenschen, dass sie sich einer archaischen Denkweise bedienen, die Kannibalismus, das heißt Menschenopfer in Form der sozialen Ausgrenzung und Existenzvernichtung von Kritikern oder auch in Form der Versklavung, der Steinigung oder der Tötung von „Ungläubigen“ rechtfertigt.
(Überarbeitete Fassung eines zuerst in „eigentümlich frei“ Nr. 160 (Februar 2016) veröffentlichten Aufsatzes)