Wie Claus Leggewie den islamischen Antisemitismus verharmlost

Zum Beitrag über algerische Ursprünge der Judenfeindschaft in Frankreich (FAZ vom 30. April 2019)

Von Edgar L. Gärtner

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Ich bezweifle nicht, dass Claus Leggewie, den ich etwas aus meinem ersten Leben kenne, sich in der Geschichte Algeriens auskennt. Denn er wurde 1979 mit einer Arbeit über das französische Kolonialsystem bei Bassam Tibi in Göttingen promoviert und hat sich 1984 mit einem Buch über die „Kofferträger“, die linken Unterstützer der algerischen „Befreiungsfront“ FLN im Adenauer-Deutschland, einen Namen gemacht. Damit ist aber schon angedeutet, dass Leggewie die Geschichte Algeriens und des französischen Kolonialismus völlig einseitig betrachtet. Das fängt schon damit an, dass er schreibt, Frankreich habe sich Algerien „mit äußerster Gewalt als Kolonie“ angeeignet. Dabei gab es ein Land namens Algerien noch gar nicht, als Frankreich ein Expeditionskorps losschickte, um die Festung Algier zu erobern. Diese galt als Hauptstützpunkt der Piraten, die bis dahin das ganze westliche Mittelmeer unsicher gemacht hatten. Unzählige Handelsschiffe waren von ihnen aufgebracht und geplündert worden. Abertausende ihrer Besatzungsmitglieder und Passagiere waren auf den Sklavenmärkten des osmanischen Reiches feilgeboten worden. Die Prominenten unter ihnen mussten mit hohen Summen freigekauft werden. Vor den Franzosen hatte bereits die junge US-Navy vergeblich versucht, auf dem westlichen Mittelmeer für Ruhe und Ordnung zu sorgen.
Als die ersten europäischen Siedler in das Land kamen, war dieses zum großen Teil nur dünn besiedelt und nur stellenweise urbar gemacht. Wer von der Piraterie und vom Sklavenhandel lebt, braucht sich ja um die Landbewirtschaftung kaum zu kümmern. Zu den Neuankömmlingen aus Europa gehörten Geschlagene und Gestrandete der gescheiterten Revolution von 1848, darunter auch Deutsche. Sie wurden von den französischen Militärs kaum besser behandelt als die Eingeborenen und mussten sehen, wie sie in ungewohnter Umgebung überleben konnten. Die das schafften, machten den schmalen Streifen zwischen Mittelmeerküste und Tellatlas in wenigen Jahrzehnten zu einem durchaus fruchtbaren Land. Kaum waren die Franzosen nach dem Abkommen von Evian 1962 gewaltsam vertrieben, fiel ein Großteil dieser Ländereien wieder brach, weil es viele Landbewohner vorzogen, in die Wellblech-Siedlungen der Großstädte oder nach Europa zu ziehen, statt ihr Land zu kultivieren. Bis heute muss Algerien, einst Agrar-Exportland, den weitaus größten Teil der benötigten Nahrungsmittel importieren. Bislang konnte der von undurchsichtigen Netzwerken der ehemaligen „Befreiungsfront“ FLN diktatorisch regierte algerische Staat sich das dank sprudelnder Einnahmen aus dem Öl- und Erdgas-Export noch einigermaßen leisten. Doch nun gehen die Öl- und Gas-Vorräte zur Neige…
Und das alles soll nichts mit dem von der FLN zur Staatsreligion erklärten sunnitischen Islam zu tun haben? Leggewie hat sich bereits in seiner Doktorarbeit geweigert anzuerkennen, dass die barbarischen Zustände in Nordafrika vor der Niederlassung und nach dem Wiederabzug der Europäer in der Hauptsache auf religiöse Ursachen zurückgingen. Dem stand das von ihm ohne Einschränkung akzeptierte marxistische Dogma vom Primat des Ökonomischen entgegen, dem er wohl noch heute anhängt. Gleichzeitig gehört Leggewie zu den Propagandisten (vielleicht sogar zu den Erfindern) der Ideologie des Multikulturalismus. Er hat in den letzten Jahren als Mitglied des von Angela Merkel eingesetzten Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen (WGBU) von sich reden gemacht. Er ist Mitverfasser des von der Bundeskanzlerin in Auftrag gegebenen Gutachtens über die „Große Transformation“ (sprich: Öko-Diktatur). Nach der Multikulti-Ideologie gelten alle Kulturen und Religionen der Welt als prinzipiell gleichwertig. Zeigt sich der Westen irgendwo überlegen, kann das nicht mit den christlichen Wurzeln seiner innovationsfreundlichen Kultur zusammenhängen, sondern muss dem bösen militärisch-imperialistischen Expansionsdrang des Kapitalismus zugeschrieben werden. Kein Wunder, dass Leggewie keinerlei Verständnis für das Vorgehen der französischen Militärs aufbringt.

Er hätte aber wenigstens darauf hinweisen können, dass es nicht die französische Rechte war, die auf ein Eingreifen der Armee in Nordafrika drängte. Vielmehr forderte die republikanische Linke die Beendigung des Sklavenhandels und sah in den folgenden Jahrzehnten im Kolonialismus grundsätzlich eine zivilisatorische Mission. (Darüber kann man heute zwar den Kopf schütteln. Aber es war so.) Bei der Eroberung Algiers ging es zunächst lediglich um die Ausschaltung einer Piraten-Hochburg, nicht um die Eroberung eines zum größten Teil aus Wüste bestehenden und sehr dünn besiedelten Landes. Siedlungspläne kamen erst später auf (wie angedeutet, unter anderem im Zusammenhang mit der gescheiterten Revolution von 1848). Diese bezogen sich zunächst ausschließlich auf den Küstenstreifen. Es gab dort im Osten in der Gegend von Annaba (früher Hippo) übrigens bereits seit dem Mittelalter rund um Docks aus der Römerzeit die von Kaufleuten aus Marseille gegründete kleine Kolonie La Calle (heute El Kala) unweit der tunesischen Grenze, die vor allem dem Korallenhandel diente. Erst im Gefolge des von Abd el-Kader angeführten Dschihad gegen das Christentum weiteten die Franzosen ihre militärische Präsenz nach und nach aus und mussten dabei zunächst schmerzliche Rückschläge verkraften. Erst mit dem skrupellosen Durchgreifen des französischen Befehlshabers Thomas Robert Bugeaud erlangten die französischen Truppen die Oberhand und machten den Weg frei für europäische Siedlungsprojekte.
Die Gewalt ging aber eindeutig von den Dschihadisten aus. Für Abd el-Kader und seine Banden standen „Errungenschaften“ des Islam wie die Polygamie, das patriarchale Ehe- und Erbrecht und nicht zuletzt der Sklavenhandel auf dem Spiel. Als Kronzeuge für deren grausames Vorgehen kann der in Algerien aufgewachsene französische Literatur-Nobelpreisträger Albert Camus dienen, ein Linker, der in seiner unvollendeten Autobiografie „Le premier homme“ (Der erste Mensch) die Erzählungen seiner Ahnen über die Gräueltaten der Aufständischen wiedergibt: Schwangeren Frauen wurden die Brüste abgeschnitten und der Unterleib durchstochen, Männern wurde das Gemächt abgetrennt und in den Mund gesteckt. Solche Szenen hatten die Europäer seit der Niederschlagung des Aufstandes der Vendée durch die jakobinische Armee nicht mehr gesehen. Sie wiederholten sich später im so genannten Befreiungskampf der FLN, in dem Camus nur Banditentum sehen konnte. Gerade wegen seines mutigen Eintretens für die Belange der Armen unterstützte Camus zeitlebens die „Algérie française“. (Diese galt übrigens offiziell nicht als Kolonie, sondern als eine Region Frankreichs wie die Provence oder die Auvergne.) Als die Million Franzosen (beziehungsweise die französisierten Europäer) nach dem Abkommen von Evian das Land fluchtartig verlassen mussten, hinterließen sie 18.000 Kilometer Eisenbahn, ein noch um ein Vielfaches größeres Straßennetz sowie Hunderte von Schulen und Spitälern. Die einheimische Bevölkerung wuchs während der französischen Besatzung von etwa einer auf 12 Millionen. Von Völkermord oder „crime contre l’humanité“ (Emmanuel Macron) konnte also nicht die Rede sein.

Freilich galten die Eingeborenen als Bürger zweiter Klasse. Aber das hatte einen einfachen Grund: Um Nordafrika als Siedlungsraum für Europäer nutzen zu können, mussten die französischen Politiker und Beamten Kompromisse mit den muslimischen Führern schließen. Hätten für diese die Bestimmungen des napoleonischen Code civil uneingeschränkt gegolten, hätten sie auf Vielweiberei und andere „Segnungen“ ihrer Religion verzichten müssen. Ausdruck des von beiden Seiten angestrebten Kompromisses war das „Personalstatut“ von 1865, das die Eingeborenen zu Bürgern zweiter Klasse (sujets) erklärte. Danach mussten die muslimischen Führer lediglich auf den Sklavenhandel verzichten, konnten aber ansonsten ihren Sitten treu bleiben. Immerhin gibt auch Leggewie zu, dass die konservativen Muslime diese Regelung aus nahe liegenden Gründen bereitwillig annahmen.
Die Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung und der Bodenschätze des Landes war nie das Hauptmotiv des französischen Engagements in Nordafrika, wohl aber die Ansiedlung von Bevölkerungsgruppen, die in Europa als „abgehängt“ oder „überzählig“, weil politisch geschlagen und/oder verarmt galten. Um den Siedlern ein bescheidenes Auskommen zu ermöglichen, zahlten ihnen die Franzosen im Schnitt 150 Prozent des Weltmarktpreises für ihre Produkte. (Wie nicht anders zu erwarten, tummelten sich in Algerien aber auch Glücksritter, die aus der Not der Menschen Kapital zu schlagen versuchten.) So wurden die Kolonien für das französische „Mutterland“ insgesamt zu einem sehr schlechten Geschäft. Der 2010 verstorbene französische Wirtschaftshistoriker Jacques Marseille hat ausgerechnet, dass die französischen Kolonien insgesamt 70 Milliarden Gold-Franken gekostet und die französische Wirtschaft gegenüber ihren Wettbewerbern ins Hintertreffen gebracht haben. Marseille kann als umso glaubwürdiger gelten, als er als junger Kommunist, mit Rosa Luxemburgs Imperialismus-Theorie im Hinterkopf, versucht hatte, in seiner Dissertation das Gegenteil zu belegen.

Durch die Brille des Marxismus betrachtet, stellt sich die Geschichte freilich ganz anders dar. Religiöse Zugeständnisse mussten danach immer auf wirtschaftliche Interessen zurückgeführt werden. Im Hinblick auf die Ideologie des Antisemitismus kann Leggewie diese Argumentationslinie aber nicht durchhalten. Er bezieht sich auf das gerade erschienene Buch von Marc Weitzmann, eines französischen Schriftstellers jüdischer Herkunft, über die Ursprünge der aktuellen Antisemitismus-Welle in Frankreich. Zu Recht weist Weitzmann darauf hin, dass das aktuelle Erstarken des Antisemitismus in Frankreich nicht allein den Einwanderern aus Algerien und anderen islamisch regierten Ländern angelastet werden kann. Das katholische Frankreich hat eine lange Tradition der Juden-Diskriminierung und -Verfolgung, die mindestens bis zum heiligen König Ludwig IX. zurück reicht. Relativ glückliche Episoden wie im toleranten Preußen oder in der KuK-Monarchie gab es für die Juden in Frankreich nie, obwohl auch dort einige jüdische Familien in der Industrie oder in der Finanzwirtschaft zu Wohlstand gelangten. Dazu gehört etwa die Industriellen-Familie Weil, in deren unmittelbarer Nachbarschaft ich in den 1980er Jahren in Besançon lebte. (Leggewie scheint die Holocaust-Überlebende und liberale Politikerin Simone Veil, die sich mit „V“ schrieb, mit der im englischen Exil verhungerten jüdischen Philosophin und Widerstands-Kämpferin Simone Weil zu verwechseln.)
Wie stark der Antisemitismus in Frankreich verankert war, zeigte die Dreyfuß-Affaire um die vorletzte Jahrhundertwende. Die in Frankreich lebenden Juden konnten von Glück sagen, dass die Mehrheit der Franzosen in Sachen Antisemitismus nicht so konsequent war wie die Nazis. Die für das heutige Frankreich charakteristische Verbindung von Antisemitismus und Arabophilie wurzelt in der Zeit der Romantik. (Auch in der deutschen Romantik gab es eine islamophile Strömung, die bis in die Gegenwart fortwirkt.) Unter der Herrschaft des 1852 durch einen Putsch an die Macht gelangten Napoleon III. wurde die ursprüngliche Losung der Großen Französischen Revolution „Freiheit-Gleichheit-Sicherheit (des Eigentums)“ nicht zufällig in „Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit“ abgefälscht. Ideengeber waren der sozialistische Graf Henri de Saint-Simon und dessen bis heute in Clubs organisierten Anhänger. Diese schwärmten für den geheimnisvollen Orient und den Islam als Gegenbild zum kalten Nützlichkeitsdenken des Westens. Zu den Anhängern Saint-Simons zählten der wie ein Messias verehrte Père Enfantin und dessen Schüler, der farbige Sklaven-Abkömmling Thomas Urbain, der dem berüchtigten General Bugeaud in Algerien als Dolmetscher diente. Unter dem Namen IsmaŸl zum Islam konvertiert, wurde Urbain bald zum persönlichen Berater des arabophilen Napoleon III. Urbain sah in den Juden die wichtigsten Verfechter des von ihm abgelehnten kalten Materialismus und förderte die antisemitische Propaganda, wo er nur konnte.
Mit der Abdankung Napoleons III. im Jahre 1870 fand diese Phase der französischen Politik zwar ein Ende. Doch bis heute wird in Frankreich die „Politique arabe“ durch öffentlich finanzierte Institute und Denkfabriken aktiv gefördert. Dazu gehört beispielsweise das vom früheren sozialistischen Kultusminister Jack Lang präsidierte „Institut du Monde arabe (IMA)“ in Paris. Von daher ist es kein Wunder, dass führende Journalisten der französischen Massenmedien auch heute wieder spontan für die terroristische Hamas Partei ergreifen, wenn sie Raketen-Angriffe auf israelische Siedlungen kommentieren.
Mit dem auf die Romantik zurückgehenden französischen Antisemitismus haben die zahlreichen antisemitisch motivierten Anschläge in den letzten Jahren wie das Blutbad im Konzertsaal Bataclan oder in einem koscheren Supermarkt aber nichts zu tun. Insofern erscheint es als irreführend, wenn Leggewie mit so großem Nachdruck auf innerfranzösische Quellen des Antisemitismus hinweist.

 

(Zuest veröffentlicht in: The European am 15. Mai 2019)